Edit Policy: Artikel 17 im EU-Copyright vor dem EuGH – Der Generalanwalt am EuGH will eine berüchtigte Regelung der EU-Urheberrechtsrichtlinie nicht kippen. Richtig zufrieden dürfte aber trotzdem niemand sein.
Wenn es nach dem Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs geht, wird die Klage Polens gegen den berüchtigten Artikel 17 der EU-Urheberrechtsrichtlinie scheitern. Doch die grundrechtskonforme Auslegung des Uploadfilter-Paragrafen, die der Generalanwalt für geboten hält, ist so weit von den Vorstellungen der Unterhaltungsindustrie entfernt, dass diese die Stellungnahme wohl kaum als ungetrübten Erfolg werten kann. Wenn der Gerichtshof der Interpretation des Generalanwalts anschließt, müssten einige Plattformen wie YouTube den bisherigen freiwilligen Einsatz von Uploadfiltern sogar einschränken.

Kurz nach der Verabschiedung der Reform vor zwei Jahren hatte die polnische Regierung Klage erhoben, da der verpflichtende Einsatz von Uploadfiltern den Wesensgehalt des Rechts auf Meinungsfreiheit verletze. Am vergangenen Donnerstag hat der Generalanwalt seine Schlussanträge in dem Verfahren veröffentlicht, die zwar nicht rechtlich bindend sind, aber in vielen Fällen die Grundlage für das Urteil des Gerichtshofs bilden. Dieses wird in einigen Monaten erwartet.
Filter unter strengen Vorgaben erlaubt
Zunächst räumt der Generalanwalt mit einer Reihe von Behauptungen auf, die während der Urheberrechtsreform die Gemüter erhitzt haben. Das Argument, Artikel 17 führe gar nicht zum verpflichtenden Einsatz von Uploadfiltern, weil diese nicht im Text stehen, wischt er schnell beiseite. Er könne sich “schwer vorstellen, mit welchen anderen Mitteln als dem Einsatz eines Tools zur automatischen Erkennung” die Plattformen ihren Verpflichtungen unter Artikel 17 nachkommen sollten. Das hatten Kritiker:innen des Gesetzes schon seit Jahren betont. Dennoch versprach die CDU im Europawahlkampf, das Gesetz ohne Uploadfilter in deutsches Recht umzusetzen. Im Frühjahr musste sie zugeben, dafür doch keinen Weg gefunden zu haben.

Der Generalanwalt räumt ein, dass Artikel 17 einen besonders gravierenden Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellt, weil Uploadfilter die Unterdrückung von Informationen noch vor deren Veröffentlichung bewirken können. Den Begriff “Zensur”, den die polnische Regierung in ihrer Klage verwendet hat, hält er für eine solche präventive Inhaltskontrolle durchaus für angemessen, vermeidet ihn jedoch in seiner eigenen Analyse, da Zensur auch eine “politische oder moralische” Kontrolle der Inhalte implizieren könne. Eine präventive Inhaltskontrolle sei nur unter sehr hohen Schutzvorkehrungen mit den Grundrechten vereinbar. Gerade im schnelllebigen Internet bestünde bei einer Vorabkontrolle von Inhalten “die Gefahr, dass ihnen jegliche Aktualität genommen würde und die Öffentlichkeit daran kein Interesse mehr hätte”.

Überraschenderweise kommt der Generalanwalt jedoch zu dem Schluss, dass Artikel 17 zu retten ist, indem man die Schutzvorkehrungen, die der EU-Gesetzgeber gegen Ende der Verhandlungen auf erheblichen Druck der Zivilgesellschaft in den Text eingeführt hat, weit auslegt. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Regelung zu, wonach die Filterpflichten der Plattformen nicht dazu führen dürfen, dass legale Inhalte gesperrt werden. Diese Regelung, die die Unterhaltungsindustrie gerne als bloße politische Zielvorstellung kleinzureden versucht, nimmt der Generalanwalt ernst: “Der Gesetzgeber hielt ‘falsch positive’ Ergebnisse, die in der Sperrung zulässiger Inhalte bestehen, für schwerwiegender als ‘falsch negative'”, schlussfolgert er aus dieser Passage.
Ein Pyrrhussieg für die Unterhaltungsindustrie
Wann immer Zweifel an der Rechtswidrigkeit eines Inhalts bestehen, dürfen Uploadfilter nicht zum Einsatz kommen. Diese müssen laut Generalanwalt auf offensichtliche Fälle begrenzt werden, etwa Uploads ganzer Kinofilme. Bei transformativen Nutzungen, bei der Ausschnitte aus geschützten Werken in einem neuen Kontext verwendet werden, hält der Generalanwalt den Einsatz von Uploadfiltern deshalb für einen Verstoß gegen Artikel 17. Plattformen dürfen überhaupt nicht über Zweifelsfälle entscheiden, da ihnen die notwendige Sachkenntnis und Unabhängigkeit fehle, das Urheberrecht auszulegen.

Das bedeutet, dass auch im Rahmen des bereits lange praktizierten Notice and Takedown-Verfahrens die Plattformen nur dann zu einer unverzüglichen Sperrung verpflichtet seien, wenn die Rechtsverletzung ohne nähere juristische Prüfung offensichtlich sei. In allen anderen Fällen müssen die Rechteinhaber:innen vor Gericht ziehen. Die heutige Praxis, wonach zahlreiche Internetdienste automatisch auf Takedown-Notices reagieren und so regelmäßig legale Inhalte sperren, ist von diesem Ideal weit entfernt.

Plattformen dürfen solche Inhalte auch nicht freiwillig auf Wunsch von Rechteinhaber:innen mit Verweis auf das Urheberrecht sperren, sondern sie müssen in ihren Geschäftsbedingungen die Nutzung von Zitatrecht, Parodiefreiheit und anderen Urheberrechtsausnahmen garantieren. Diese Interpretation von Artikel 17 birgt durchaus Sprengstoff, denn viele Plattformen, die bereits heute Uploadfilter einsetzen, beispielsweise YouTube, blockieren ganz selbstverständlich solche legalen Nutzungen und verweisen die Betroffenen auf die Möglichkeit, Beschwerde zu erheben. Dieses Vorgehen ist nach Ansicht des Generalanwalts rechtswidrig.

Der Generalanwalt zeigt also einen Weg auf, wie Artikel 17 die polnische Klage überleben könnte, doch ob sich die Unterhaltungsindustrie damit einen Gefallen getan hat, sei dahingestellt. Zahlreiche Rechtsdurchsetzungsmechanismen, die sie mit großen Plattformen auf freiwilliger Basis zum Leidwesen der Nutzer:innen etabliert hat, wie ContentID oder das vollautomatisierte Notice-and-Takedown-Verfahren, müssten dann nämlich erheblich eingeschränkt werden.
Gefahren für die Grundrechte
Grund zum Jubel für die Zivilgesellschaft bieten die Schlussanträge dennoch nicht. Sie stellen eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dar, wonach Uploadfilter als eine generelle Überwachungspflicht grundsätzlich verboten waren. Das gibt auch der Generalanwalt zu: Die Interpretation des Verbots allgemeiner Überwachungspflichten habe sich “in jüngster Zeit weiterentwickelt”. Bei der Rechtfertigung dieser Abkehr vom Uploadfilter-Verbot verstrickt sich der Generalanwalt in Widersprüche. Einerseits betont er, dass das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten den Wesensgehalt der Meinungsfreiheit schütze, die Plattformen haben zentrale Bedeutung für die Ausübung dieser Freiheit und “tragen so zu einer Art ‘Demokratisierung’ der Informationserzeugung bei”.

Wenn der Wesensgehalt eines Grundrechts berührt ist, bedeutet das, dass eine solche Einschränkung auch nicht mehr durch den Schutz eines anderen Grundrechts zu rechtfertigen ist – der Wesensgehalt eines Grundrechts muss immer erhalten bleiben, der Zweck heiligt nicht die Mittel. Da der Generalanwalt das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten für einen Garanten dieses Wesensgehalts der Meinungsfreiheit hält, sollte man meinen, dass er diesen Grundsatz nicht antastet. Stattdessen bezeichnet er aber die Neuinterpretation dieses Verbots, die der Europäische Gerichtshof erstmals in einem Urteil zu Beleidigungen auf Facebook vorgenommen hat, als “gerechtfertigt”.

Würde man an der Rechtsprechung festhalten, wonach verpflichtende Uploadfilter immer gegen das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten verstoßen, “hätte dies die bedauerliche Konsequenz, dass der technologische Fortschritt, der eine solche Filterung möglich macht, ignoriert und dem Unionsgesetzgeber ein wertvolles Instrument zur Eindämmung gewisser arten von unzulässigen Inhalten aus der Hand genommen würde”. Stattdessen müsse das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten fortan so interpretiert werden, dass es automatische Sperrungen nur dann erlaubt, wenn sie auf offensichtlich rechtswidrige Inhalte begrenzt sind und das Risiko von Overblocking dadurch minimal sei. Erwägungen über den Nutzen einer Grundrechtseinschränkung haben aber in einer Situation, in der der Wesensgehalt eines Grundrechts berührt ist, absolut nichts zu suchen. Indem der Generalanwalt den Schutz des Wesensgehalts der Meinungsfreiheit mit Verweis auf den Nutzen von Uploadfiltern verringert, widerspricht er sich selbst.
Nationale Gesetzgeber in der Pflicht
Auch dem Generalanwalt ist bewusst, dass es den perfekten Uploadfilter, der nur illegale Inhalte sperrt und legale Inhalte verschont, nicht gibt. Er hält es deshalb für notwendig, dass deren Einsatz von vornherein auf die wenigen Fälle begrenzt wird, in denen Overblocking unwahrscheinlich ist. Diese Aufgabe dürfen EU-Kommission und Mitgliedstaaten nicht der Industrie überlassen, sie gehört in staatliche Hand. Damit gibt der Generalanwalt Deutschland Recht, das als bislang einziges Land in der EU eine Umsetzung von Artikel 17 verabschiedet hat, die solche konkreten Schutzvorkehrungen enthält. Das Konzept “mutmaßlich erlaubter Nutzungen”, wonach beispielsweise kurze Ausschnitte aus Videos oder Musik von bis zu 15 Sekunden nicht automatisch gesperrt werden dürfen, wurde von der Musikindustrie als “deutscher Sonderweg” verschrien und mit allen Mitteln bekämpft. Nun stellt sich heraus, dass dieser angebliche Sonderweg der einzige Weg ist, wie Artikel 17 überhaupt grundrechtskonform umgesetzt werden könnte.

Dennoch zeichnet sich ab, dass auch das deutsche Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz, das am 1. August in Kraft tritt, die grundrechtlichen Vorgaben des Generalanwalts nicht erfüllt. Die automatische Sperrung ist nämlich keineswegs auf eindeutige Urheberrechtsverletzungen beschränkt. Beispielsweise gilt ein Upload nur dann als mutmaßlich erlaubte Nutzung, wenn er weniger als 50 Prozent eines geschützten Werks enthält. Es gibt aber zahlreiche Beispiele legaler Nutzungen, die dieses Kriterium nicht erfüllen. Deshalb wird die Gesellschaft für Freiheitsrechte, bei der ich das Projekt control © leite, ab 1. August Fälle von Overblocking in Deutschland sammeln und dokumentieren.

Wenn der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil der Interpretation des Generalanwalts folgt, wird also auch Deutschland seine Umsetzung von Artikel 17 womöglich noch einmal anpassen müssen. In Mitgliedstaaten wie Frankreich, Ungarn oder den Niederlanden, die Artikel 17 gänzlich ohne Schutzvorkehrungen für die Grundrechte umgesetzt haben, wird es erst recht notwendig, diese Gesetze vor Gericht zu bringen, da sie offensichtlich gegen die EU-Grundrechtecharta verstoßen.

Über Julia Reda (Gastautorin):

Julia Reda war von 2014 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments innerhalb der Fraktion Die Grünen/EFA. Später hat sie im Rahmen eines Fellowships am Berkman Klein Center for Internet & Society der Harvard University geforscht und arbeitet seit 2020 bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte in Berlin. Ihre Kolumne "Edit Policy" erscheint unter der Lizenz CC BY 4.0. | Foto: CC-BY Diana Levine