Beueler-Extradienst

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Gewaltfreier Widerstand?

Alternative zum barbarischen Gemetzel?

Der Bundeskanzler hat die Bürgerinnen und Bürger mit einem seiner Statements vor einigen Tagen auf schlimmste Bilder und Entwicklungen vorbereitet. Wer die Satellitenaufnahmen an Kiew und Mariupol heranrückender russischer Truppen sieht, wer weiss, mit welcher Skrupellosigkeit das Putin-Regime seine Machtinteressen durchzusetzen bereit ist, muss besorgt über die sich derzeit abzeichnende Eskalationsspirale sein. Das rechtfertigt es, über Ausstiegs- oder Deeskalationsmöglichkeiten nachzudenken. Was aber dem Autor besonders zu denken gibt, sind die seit Tagen anwachsenden realen Spannungen auch bei uns durch Zerstörung und Leid der Ukrainischen Opfer und der tief empfundenen Hilflosigkeit und Wut gegenüber den russischen Verursachern. Wobei oft nicht zwischen Putin (verantwortlich) und russischem Fernfahrer oder Supermarkt in Deutschland (nicht verantwortlich) differenziert wird.

Thermobarische Massenvernichtungswaffen

Wer die Schwere der Truppenbewegungen sieht und weiss, dass diese Truppen mit Raketenwerfern und besonders mit thermobarischen Massenvernichtungswaffen in der Lage und willens sind, eine Massenschlächterei an Menschen anzurichten, kann sich nicht mit einer reinen Eskalation der Situation abfinden. Die Ausrufung der zweiten nuklearen Drohgebärde durch den russischen Diktator ist – jedenfalls soweit wir vermuten können – noch keine direkte Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen. Aber auch dies ist keine Garantie, dass eine, wie der russische Kriegsminister  Schoigu erklärt hat, sich durch die NATO bedroht fühlende russische Regierung nicht völlig ausrasten und einen wahnsinnigen Nukleareinsatz gegen den Westen beginnen könnte.  Was der Ukraine aber ganz direkt und in kurzer Zeit droht, ist ein furchtbarer Vernichtungskrieg und ein völkerrechtswidriges Gemetzel. Trotz aller Tapferkeit und offensichtlicher militärischer Resilienz. Sowohl das Treffen der Aussenminister von Russland und der Ukraine in der Türkei, wie auch die Telefonate Putins mit Macron und Scholz zeigen keinerlei Verhandlungsbereitschaft und wurden von Lawrow und Putin ausschließlich zu erneuten Drohungen gegen die Ukraine und ihre Verbündeten und zur Legendenbildung missbraucht.

NATO und EU sollten ehrlich handeln

Ob die positiv gemeinten Solidaritätsbekundungen durch das Europäische Parlament, man stehe uneingeschränkt an der Seite der Ukraine, verbunden mit vorrangig militärischen Unterstützungszusagen ein Massaker verhindern können, muss bezweifelt werden. Gleichzeitig wird trotz aller noch zu verschärfender  Sanktionen und sonstiger Unterstützungsmaßnahmen klar festgestellt werden, dass weder die NATO noch die Vereinigten Staaten als Atommacht sich in eine kriegerische Auseinandersetzung mit Russland begeben werden. Die Forderung nach einer “Flugverbotszone” ist die Forderung nach einem direkten Krieg der NATO gegen Russland, die die Gefahr bzw. den Beginn des 3. Weltkrieges, eines finalen Vernichtungskrieges bedeutet. Außerdem kann eine Flugverbotszone ausschließlich die UNO beschließen, in deren Sicherheitsrat Russland Veto einlegen würde. Dass Präsident Selenskyj dies vor der EU gefordert hat, weist auf seine verzweifelte Lage hin – nicht mehr und nicht weniger. Deshalb wäre es auch von Seiten der EU angebracht, sich ehrlich zu machen und der zu allem entschlossenen ukrainischen Führung im Geheimen eine Alternative zum heroischen, aber sinnlosen Untergang im Kampf bis zum letzten Blutstropfen anzubieten.

Eine Exilregierung ist keine Kapitulation

Dabei sei verwiesen auf die von Friedensforschenden und Politikwissenschaftler*inne*n entwickelten Strategien des gewaltfreien Widerstandes. Diese Strategien haben ausgehend von einer Weiterentwicklung des erfolgreichen Widerstandes von Mahatma Ghandi gegen die britische Kolonialherrschaft eine robuste Widerstandsform auf der Basis demokratischer Legitimation aus der Gesellschaft heraus entwickelt. Nein, hier soll jetzt nicht der tapferen ukrainischen Bevölkerung geraten werden, sich zu ergeben. Aber die Frage muss gestellt werden, ob der tapfere Heldentod oder gar Folter und sein Ende nach einem Schauprozess, an dessen Ende es keinen frei gewählten charismatischen Präsidenten mehr geben wird, dazu hunderttausende sinnlose Opfer vor der Geschichte ein sinnvolles Ende der Ukraine sein kann. Oder ob es sinnvoller und tapferer wäre, wenn ein Präsident wie einst Charles de Gaulle vom Exil aus agiert. Ein, wie wir sehen, ideenreicher Präsident als Symbol für einen gewaltfreien Aufstand der Ukrainer, der ein politischer Faktor bleibt, indem er zum Niederlegen der Waffen, aber gewaltlosem Widerstand aufruft und zahllose Opfer vermeidet. Natürlich liegt auch darin ein Risiko, denn Unterdrückung von Bevölkerungen gehört zum Kerngeschäft der Firma Putin & Co. und niemand hat eine Gerantie, dass Menschen wirklich verschont werden. Auch nicht dafür, dass Aktionen funktionieren, wie sie etwa Jürgen Grässlin gestern vorgeschlagen hat, dass tausende weiß gekleidete und mit weissen Fahnen “bewaffnete” Menschen die Zufahrten zu den Städten schützen. Auf dem “Platz des himmlischen Friedens” hat das nicht geklappt, aber wäre es einen Versuch wert, als Alternative zu verbrannter Erde und hunderttausender Toter wie in Grozny oder Aleppo?

Im Krieg wird jede Äußerung zur parteilichen Stellungnahme

Es ist mir sehr wohl klar, dass meine Äußerungen in der aktuellen Situation nicht wertfrei beurteilt werden. Viele Menschen in der Ukraine und im Westen waren und sind wie ich positiv überrascht über die Widerstandskraft der ukrainischen Truppen, dem offensichtlichen Fehlkalkül des russischen Despoten Putin, der mit einem Blitzkrieg und schnellen Sieg gerechnet hat. Der jung wirkende, ideenreiche und  dynamische,  gewählte Präsident Selenskyj ist der idealtypische Gegenpart zum tumben, ausgebrannten und neurotisch alternden Diktator Wladimir Putin. Niemand möchte die Wirkung einer solch charismatischen Persönlichkeit durch Einschätzungen brechen oder nur mindern, die in dieser brutalen Wirklichkeit wie ein Lichtstrahl der Hoffnung und der Demokratie wirken. Und sei es nur symbolisch, denn die Wirklichkeit der Oligarchenherrschaft in der Ukraine ist um kaum einen Deut besser, als in Russland. Aber Selenskyj ist die personale Bedrohung des autoritären Systems, denn Putin hat nicht vor der NATO oder ihren Atombomben Angst, sondern vor den demokratischen Bewegungen, wie sie einst in der Ukraine und kürzlich seinem Komplizen  Lukaschenko den A….  haben auf Grundeis gehen lassen.

Intelligenter gewaltfreier Aufstand kein pazifistischer Blütentraum

Gewaltfreier Aufstand, wie ihn etwa Prof. Theodor Ebert empfiehlt, ist kein harmloser pazifistisches Blütentraum, sondern beruht auf einem Arsenal der Organisation von verdeckter und offener Gegenmacht von unten, Vorbereitungen auf einen permanenten zivilen Widerstand, Sabotageaktionen, Verhandlungen und Delegitimation, Protestaktionen, Hungerstreiks und Selbsttötungen, wirtschaftlichem Boykott von innen und außen, zivilem Ungehorsam und ziviler Usurpation. Dabei räumt Ebert stets die lange Dauer der Ablösung kämpferischer Verhaltensweisen durch pazifistische Prozesse ein, da letztere einer ausgiebigeren und fundierteren Planung bedürfen. In diesem Durchsetzungsprozess erachtet Ebert Solidarität als einen entscheidenden Faktor der Handlungsstrategien. Die Effizienz und Relevanz solcher Strategien wird auch durch die Positionen des Friedenspreisträgers Carl-Friedrich von Weizsäcker und Horst Afheldt gestützt. Eine solche Alternative zur blutigen und sinnlosen Niederlage könnte sich gerade bei einer so zum Widerstand entschlossenen ukrainischen Gesellschaft zum Anfang vom Ende von Putins Herrschaft auch in Russland entwickeln.

Der zivile Widerstand hat schon längst begonnen

Wladimir Putin hat in mehrfacher Hinsicht die Verhältnisse falsch eingeschätzt: Er hat geglaubt, dass sein Krieg schnell und schmutzig zum Erfolg führen würde, er muss aber nun feststellen, dass er viel länger dauert, als vermutet. Und weil auch sein Krieg auf Lüge und Täuschung, Zensur und Propaganda beruht, die in der modernen Informationsgesellschaft aber nicht mehr funktionieren, hat ein Teil des zivilen Widerstands schon begonnen. Viele Russen bemerken, dass eine Lücke klafft zwischen den Erklärungen Putins und dem, was sie privat von ihren Kontakten im Westen oder Freunden in der Ukraine hören und lesen. Russische Soldaten in der Ukraine wissen nicht, wen sie warum überfallen und russische Kriegsgefangene werden wider erwarten gut behandelt und angehalten, ihre Familien zuhause über den wahren Krieg aufzuklären. Inzwischen ist bekannt, dass der lange Armeekonvoi vor Kiew auch deshalb nicht weiterkam, weil Panzern nicht nur der Sprit ausging, sondern junge russische Soldaten, die merken, warum sie wo sind, die Flucht ergriffen. Putin hat offensichtlich völlig fehl eingeschätzt, dass Ukrainer und Russen eben nicht nur auf dem Papier Geschwistervölker sind.

Demokratie schreckt Putin mehr als Militär

Eine gemeinsame Erkenntnis in der Einschätzung von Wissenschaft, Politik und Militärs dieser Tage ergibt, dass es weniger die militärische Macht der NATO ist, die Putin fürchtet und als Bedrohung ansieht, sondern die Demokratie, innere Reformen und die Bedrohung der Autokratie. Das hat in der Ukraine begonnen, wurde in den Wahlen gegen Lukaschenko deutlich und beginnt die Legitimität seiner Herrschaft und Herrschaftsmethoden anzugreifen. Mit seinem Angriffskrieg hoffte Putin, sich in seinem territorialen “Vorgarten” politische Ruhe zu verschaffen. Dieser Traum ist geplatzt. Es ist im Zeitalter der (a)sozialen Netzwerke, des Darknet, disruptiver Medienmacht höchst unwahrscheinlich und unrealistisch zu glauben, Russland könne bei aller Erfahrung seiner im Staatsauftrag handelnden Hacker seinen Informationsraum völlig abschotten. Das mag kurzfristig möglich sein, wird aber spätestens, wenn Rekruten und tote Soldaten nach Hause zurückkehren, platzen. Russland überzeugt einen widerspenstigen “Bruderstaat”, dass Brüder immer auch Unterdrücker sein können.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Martin Arnold

    Danke für den guten Artikel!
    Das Konzept der Sozialen Verteidigung (civilian-based nonviolent defense) hat Bartkowski schon im Dezember für die Urkaine beschrieben und empfohlen – sehr lesenswert:
    Gegen Besetzung waren sowohl die Soziale Verteidigung wie auch die militärische in der Mehrzahl historisch nicht erfolgreich. Aber beide waren gleichermaßen in einem guten Drittel der Fälle erfolgreich.
    https://www.nonviolent-conflict.org/blog_post/ukrainians-vs-putin-potential-for-nonviolent-civilian-based-defense/

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