Wundersame Bahn CXXXVI

„Achtung“, sagte der Vater, „seid still; gleich drücke ich auf den roten Knopf.“ Das war der Höhepunkt des Weihnachtsfestes 1944. Und wenn Vollkommenheit dadurch definiert ist, dass nichts fehlt, gar nichts, so war es ein vollkommenes Weihnachtsfest.

Da war eine Dreizimmerwohnung in Zürich; eine Stube mit Zentralheizung und Parkett; Buffet, Sofa, Tisch und Stühle in Nussbaumfurnier; die Mutter mit der frischen Dauerwelle, der Vater frisch gescheitelt und den Scheitel frisch geölt; in der Ecke der Christbaum mit der hohen silbernen Spitze vom Dachboden, wie jedes Jahr, behutsam aus dem Seidenpapier gewickelt. Doch das alles war noch nicht die Vollkommenheit. Vollkommen war ein Weihnachtsfest 1944 erst mit einer elektrischen Modelleisenbahn.

„Es ist eine Trix Express“, sagte der Vater, „Sie kommt aus Nürnberg. Dein Taufpate und ich haben sie zusammen in der Bahnhofstrasse gekauft. Spur 00. Die haben die Deutschen extra entwickelt, damit sie auf so einen kleinen Stubentisch passt. Achtung, ich drücke jetzt auf den Knopf!“

Und dann das Unfassbare: Die wunderschöne kleine Dampflokomotive aus Nürnberg, an der selbst die Leitern in Gusseisen putzig nachgeformt waren, sie fuhr nicht etwa in die falsche Richtung los, nicht etwa zu langsam oder zu schnell. Nein, sie fuhr überhaupt nicht. Das deutsche Spielzeug tat keinen Wank.

Prüfend nahm der Vater die Lok in die Hand. „Nürnberg soll bombardiert worden sein“, sagte die Mutter besorgt. Auch die Gleise aus schwarzglänzendem Kunstharz sahen wir sorgfältig nach. Nirgendwo war ein Schaden zu erkennen. Doch die Lok stand unverwandt still. „Vielleicht liegt es am Trafo“, sagte der Vater, „der Trafo ist schweizerisch.“

Warum war der Trafo schweizerisch? „Wegen dem totalen Krieg“, erklärte der Vater. „Die Deutschen liefern keine Trafos mehr.“ Gespannt hielten wir die Ohren an den schweizerischen Trafo. Er summte. An ihm also lag es nicht.

Plötzlich fiel mein Blick auf die Buchsen am Trafo. Über der einen war ein Plus-Zeichen, über der anderen ein Minus-Zeichen. „Papi“, sagte ich ganz leise, „es ist alles in Ordnung. Du hast nur beim Anschliessen den positiven mit dem negativen Pol verwechselt.” 

Und wie nun die Stirnlampen der Lokomotive märchenhaft aufleuchteten und der deutsche Zug losfuhr, lustig im Oval auf dem nussbaumfurnierten Stubentisch, da war es, als ob alle Engel von Nürnberg durch die Dreizimmerwohnung in Zürich jubilierten. Das Weihnachtsfest 1944 war vollkommen. Das ganze Leben, ich wusste es, würde vollkommen sein. Ich durfte nur den positiven und den negativen Pol niemals verwechseln.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.

Über Hans Conrad Zander / Gastautor:

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