Gerhard Schröder ist immer noch gut – für Erregungen in der SPD, Einschaltquoten im Fernsehen und Klickzahlen im Netz. Mehr als seine Vorgänger und seine Nachfolgerin steht der Ex-Kanzler im Zentrum der Aufarbeitung jüngster deutscher Vergangenheit: allem voran wegen der Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas und der Beziehungen zu den beiden diktatorisch geführten Großmächten, Russland und China. Was einst als Ausweis interessengeleiteter Realpolitik gewürdigt wurde, wird seit Putins Überfall auf die Ukraine einer Neubewertung unterzogen. Zeitenwende eben. Beginn einer neuen Epoche von wertegeleiteter Außenpolitik? Zurückliegendes wird neu gedeutet und Geschichte neu geschrieben. Akteure tun es und Journalisten, wie nun die beiden FAZ-Korrespondenten Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem akribisch verfassten und – Schröder gemäß – auflagestarkem Buch „Die Moskau Connection“ samt Untertitel „Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit“. Wie es oft war und nun ist – Schuldfragen werden auf andere Weise interessengeleitet gestellt. Geschichtsschreibung und Handlungsempfehlungen werden zu zwei Seiten derselben Medaille. Also häufen sich Beiträge über die jüngere deutsche Vergangenheit – nebst Fehleranalysen, Selbstbezichtigungen, Erklärungsversuchen und Verteidigungsschriften. Auch Angela Merkel arbeitet daran.

Schröder in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, liegt nahe. Kein Kanzler hatte ein so inniges Verhältnis zum Chef im Kreml. Nie hat er ein Geheimnis um seine Netzwerkfreunde gemacht, ganz früher als Juso-Häuptling und schließlich als Genosse der Bosse. Familienleben und Lieblingsspeisen (einst Currywurst, nunmehr Gemüse) wurden in Szene gesetzt. Dabei ist es ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass kanzlertaugliche Politiker Freunde, Unterstützer und Helfer haben und diese auch – bei Bewährung – quasi im Windsschatten auf herausragende oder auch einträgliche Posten kommen.

In der Summe galt Schröder als Medienliebling, was mit dem Ende der Kanzlerschaft abbrach und sich mit seinem Russland-Engagement ins Gegenteil verkehrte. Er wurde zum Outlaw der deutschen Sozialdemokratie, blieb aber im Zentrum öffentlichen Interesses und Streites. Vieles gerät darüber in den Hintergrund öffentlicher Aufmerksamkeit. Beginn eines Historikerstreites? Schröder als Alleinschuldiger in Sachen Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas? Gar in Kontinuität von Willy Brandts und Helmut Schmidts Entspannungspolitik, die doch von Helmut Kohl im Wesentlichen fortgesetzt wurde? Wuchtige Thesen werden in die Welt gesetzt.

Angela Merkel, in deren Amtszeit die Gasgeschäfte mit Russland explosionsartig expandierten, geht den umgekehrten Weg: Reden ist bloß Silber – gemäß dem auch von Olaf Scholz beherzigten Merksatz politischer Berater: Auch Schweigen ist Kommunikation. Auch Merkels engere Mitarbeiter unterlagen einem Schweigegelübde. Einige wurden belohnt – ihr ehemaliger Regierungssprecher wurde Intendant des Bayerischen Rundfunks und ihr Wirtschaftsberater Präsident der Deutschen Bundesbank. Ein Merkel-Netzwerk, zu dem sogar ein vormaliger Berater Schröders zählte? Nur die Grünen mussten sich in Sachen Gas-Connections nicht korrigieren, weshalb sich deren zuspitzende Kritiker in den sozialen Medien fragen sollten, ob sie nebenbei Putins Geschäft betreiben.

Über Guenter Bannas / Gastautor:

Günter Bannas ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Beiträge sind Übernahmen aus "Der Hauptstadtbrief", mit freundlicher Genehmigung.