…oder wird diesmal mit ihm als Bauer Schach gespielt?

Was war das für ein Spiel, was für ein Ablauf von kruden Ereignissen in Russland mit einem außer Rand und Band geratenen Söldnertruppenführer Jewgeni Prigoschin und Wladimir Putin? Die Spekulationen im Westen schießen ins Kraut. Ein Putsch gegen Putin, an dem auch Leute aus seinem Apparat beteiligt sein könnten, die sich bisher nicht aus der Deckung wagten? Ein gezielter Aufstand gegen die Führungsriege um Verteidigungsminister Schoigu, der nun komischerweise abgetaucht ist? Und der Westentaschen-Diktator und Vasall Putins Lukaschenko als “Vermittler”? Spekulationen sind angesagt – wohin führt das…nach Absurdistan?

Vorgestern noch waren einige tausend  Soldaten der Wagner-Privatarmee mit schweren Waffen und Panzern auf dem Marsch nach Moskau – oder jedenfalls ins Hauptquartier der russischen Truppen auf halbem Weg, das sie ohne Widerstand besetzen konnten. Putin antwortete mit einem Bann gegen den “Dolchstoß” (die Oberste Heeresleitung und die Dolchstoßlegende lässt grüßen!) durch Aufständische und erklärte die Wagner-Truppe für Verräter und quasi als vogelfrei. Die drehten dann auf halbem Weg um und wurden plötzlich amnestiert, unter der Bedingung, dass sie sich nach Belarus begeben. Die schlauen Köpfe des Journalismus und der Politiksimulation in Westeuropa rätselten in den vergangenen Tagen über die möglichen Konsequenzen für den Machtapparat Putins, für die Ukraine, für die Wahlen in Russland im nächsten Jahr.

Verblüffendes Nichtwissen

Zwei Details, die eher am Rande bekannt wurden, finde ich spannend. Da war einmal der Anrufer beim ARD-Presseclub mit russischem Akzent, der berichtete, dass nach seinen Recherchen im Netz nicht etwa Lukaschenko, sondern Alexei Gennadjewitsch Djumin  seit 2016 Gouverneur des Oblast Tula  und mit Putin und Prigoschin aus früheren Zeiten befreundet, diesen Deal eingefädelt habe. Die anwesende russische Journalistin bestätigte das. Von diesem, so die Journalistin werde man wohl in Zukunft noch hören, denn bei einer Umbildung der Regierung käme Putin an ihm wohl nicht mehr vorbei. Interessanterweise ist Djumin 2013 bei der Krim-Besetzung stellvertretender Verteidigungsminister gewesen und hat den Einmarsch überwacht.  In den ARD-Tagesthemen oder im ZDF fand diese Version nicht einmal ansatzweise Erwähnung – hier wurde Lukaschenko als Vermittler bezeichnet, der allein aufgrund von Putins Beistand nach seinen manipulierten Wahlen überhaupt noch im Amt ist. Und zum anderen, dass die ganzen Privatarmeen – auch die “Wagner”-Leute eigentlich auf “Spezialeinheiten” der GRU, des militärischen Geheimdienstes Russlands zurückgehen und es zumeist alte Geheimdienstknochen sind, die sich seit Jahren kennen und da gerade befehden.

Was machen eigentlich tausende Söldner in Belarus?

Obwohl es darüber keine Beweise in Form von Luftaufnahmen, Berichten vor Ort, oder mehr als diffusen Handyfotos gibt, stellt sich doch die Frage, wohin diese tausenden Söldner – unbestätigte Meldungen gingen mal von bis zu 40.000  im Kampf in der Ostukraine aus – der Wagner-Truppe “verschwunden” sind und wo sie sich jetzt aufhalten. Putin hat erklärt, dass sie amnestiert werden, sofern sie nach Belarus abziehen. Was aber werden mehrere tausend oder gar zehntausende Söldner, die von Beruf eigentlich Räuber, Mörder, Vergewaltiger und Plünderer sind, in Belarus tun, wenn sie nicht ihrer Profession nachgehen können? Warum sollte sich Lukaschenko auf Dauer eine solche Mördergang ins Land holen, und wie werden sie sich dort die Zeit vertreiben?

Was will die Wagner-Truppe in Belarus?

Ein Blick auf die Landkarte belehrt, dass Belarus eine hervorragende Ausgangsbasis für einen militärischen Überfall auf den Norden der Ukraine, insbesondere auf Kiew ist. Das, was Putin kurz nach Beginn des Krieges nicht geschafft hat, nämlich die Hauptstadt einzunehmen und eine Front von Norden aufzurichten – könnte das nicht das Ziel der Wagner-Verbrecher sein? Ein Zweifrontenkrieg, d.h. Angriffe gegen Kiew von Norden, ist das, was Selenskij momentan wegen der Offensive gegen den Donbas und die russisch okkupierten Gebiete derzeit am allerwenigsten gebrauchen kann. Hätte Russland die Wagner-Söldner und ihren umfangreichen militärischen Tross plötzlich aus Bachmut abgezogen und nach Norden geführt, wäre eine Zweifronten-Initiative Russlands vorzeitig aufgefallen. Welche bessere Legende für eine eilige Truppenverlegung ist  der scheinbare Abzug, oder besser die Flucht der Wagner-Verbrecher, nach Belarus? Um von dort aus einen Entlastungsangriff auf Kiew zu führen, die ganze Offensive der Ukraine in Frage zu stellen – wenn nicht schlimmeres zu erreichen – und die Wagner-Truppe endgültig zu Helden werden zu lassen? In diesem Falle hätte Putin das Schachspiel noch in der Hand. Kann sein, kann aber auch überkandidelten Phantasien entspringen.

Sicherheitsgefühl der Bevölkerung angeschlagen?

Mindestens ebenso wahrscheinlich ist, dass die Streitigkeiten der Geheimdienstler Putin und Prigoschin, der ja ohnehin erstaunlich ungestraft über Verteidigungsminister Schoigu öffentlich herziehen konnte, ohne dafür belangt zu werden, einfach eskaliert sind, weil Letzterer sich für den besseren Kriegsminister hält. Dazu passt nicht so ganz Prigoschins Interview auf seinem Telegram-Kanal, in dem er die (berechtigte) Frage stellt, was man eigentlich in der Ukraine wolle – eine Grundsatzkritik an Putin und seinem Krieg gegen den angeblichen Faschismus. Interessant auch, dass der Sender RT (Russia Today) wohl erstmalig von der “reinen Lehre” Putins abrückte und diese Frage quasi zuließ. Vielleicht ist Putin nicht mehr mehr der einzige, der die Schachfiguten setzt. Es war schon ein Hakenschlag, den er niemand erklären muss, weil sich niemand zu fragen traut, Samstag Vormittag den “Verrätern” härteste Strafen anzudrohen und keine 24 Stunden später eine Amnestie zu verkünden. Da könnte das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung, die sich bis jetzt immer auf ihn verlassen hat, möglicherweise Risse bekommen.

Vor vorschnellem Wunschdenken sei gewarnt

Um so brutaler wird er nun gegen die Ukraine vorgehen müssen, um sein Gesicht zu wahren. Der Westen tut gut daran, die destabilisierenden Vorgänge eher mit Sorge zu betrachten. Ohnehin zeigt ja die “große Sommeroffensive” nicht die Wirkung, die sich manche großspurigen Wortführenden von Begrifflichkeiten wie “Befreiung aller besetzten Gebiete” und  “die Ukraine muss siegen” von ihr versprochen haben. Alles deutet auf einen immer länger dauernden und immer mehr Opfer fordernden Abnutzungskrieg hin. Da ist es mehr als beunruhigend, dass es auf Seiten der NATO und der EU zwar immer neue Zusagen über Waffen- und Munitionslieferungen gibt, aber keine gleichzeitigen Beratungen oder zumindest gemeinsame Überlegungen, wie der Krieg eingefroren werden könnte. Putin könnte jetzt angeschlagen sein. Und in den USA beginnt der Wahlkampf 2024. Da könnte sich jetzt ein Zeitfenster für Überlegungen und Gespräche öffnen, das sich gegen Jahresende eher wieder schliesst.

 

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net