Frankreichs Staatsrat hat das jüngst verhängte Verbot zum Tragen von Abayas an Schulen gebilligt. Das höchste Verwaltungsgericht des Landes wies den Eilantrag eines Vereins zum Schutz der Rechte von Muslimen gegen das Verbot der knöchellangen Gewänder Anfang September zurück. Das Verbot stelle keine schwerwiegende Beeinträchtigung einer Grundfreiheit dar, entschied des Staatsrat. Der Bildungsminister hatte neben Abayas auch das Tragen des entsprechenden Überwurfs für Männer, des Qamis, verboten. Er stützt sich dabei auf das seit langem geltende Verbot von sichtbaren religiösen Symbolen an Schulen in dem auf Laizität, also die strikte Trennung von Staat und Religion, bedachten Frankreich.

So weit sind wir in Deutschland nicht. Wenn man sich die vielfältigen Privilegien und Vergünstigungen der Kirchen ansieht, kann man fast zur Ansicht kommen, wir lebten in einem Kirchenstaat oder wir hätten eine Staatskirche. Diese ist allerdings 1919 abgeschafft worden. Heute gilt, dass der Staat mit den Religionsgemeinschaften zusammenwirkt. Er darf sich nicht selbst mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis identifizieren, so hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden. Der Staat muss vielmehr allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften neutral und tolerant gegenüberstehen.

Dennoch gibt es eine Vielzahl von Vorteilen und Vorrechten, die die christlichen Kirchen genießen. Wir finden dies in den §§ 136 bis 141 der Weimarer Verfassung, die laut Art 140 GG Bestandteil unseres Grundgesetzes sind. Zunächst steht dort die (erfreuliche) Garantie, dass die Rechte der Bürger/innen nicht durch die Religionsfreiheit und ein religiöses Bekenntnis beeinträchtigt werden dürfen, dass die religiöse Anschauung vertraulich ist und dass niemand zu religiösem oder kirchlichen Verhalten gezwungen werden darf.

Dann kommen die Zugeständnisse: Das GG sichert die Freiheit zur Bildung von Religionsgemeinschaften und deren Eigenständigkeit bzw. Unabhängigkeit, erkennt sie an als Körperschaften des öffentlichen Rechts und gewährt ihnen das Recht zur Erhebung von Steuern. Der Staat übernimmt sogar den Steuereinzug für die Kirchen und verwendet dazu die von den Finanzämtern ermittelten persönlichen Steuerdaten der Bürger/innen. Das Eigentum der Kirchen und ihrer Stiftungen, Anstalten usw. wird garantiert, der Sonntag und die kirchlichen Feiertage sind geschützt, Gottesdienste und Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen sind zulässig.

In dem 1933 zwischen dem Vatikan und der nationalsozialistischen Reichsregierung abgeschlossenen Konkordat folgen weitere Zugeständnisse: Die innere Autonomie, die kirchlichen Verwaltungsstrukturen und die ungehinderte Verbreitung von Schriften werden anerkannt, die Freiheit des Bekenntnisses und seine öffentliche Ausübung sowie das Beichtgeheimnis werden garantiert, die katholischen Bekenntnisschulen werden unter Schutz gestellt, ihre Lehrer/innen müssen der katholischen Kirche angehören, Kleriker und Ordensleute sind von der Pflicht zur Übernahme öffentlicher Ämter befreit (auch vom Wehrdienst),

Andere Vergünstigungen haben sich dann einfach so entwickelt. So wird die Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen ebenso wie die Gehälter der Bischöfe vom Staat finanziert. Gleiches gilt für die kirchlichen Fakultäten an Universitäten. Sie werden staatlich finanziert und gewähren den Kirchen ein Vetorecht bei der Besetzung der Lehrstühle. Es gibt Religionsunterricht an den staatlichen Schulen, Mitgliedschaft in Rundfunkräten und anderen öffentlichen Gremien, Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen, Beichtgeheimnis, Taufe ohne Einwilligung, Austritt nur durch Verwaltungsakt.

Dass die Kirchen eigene Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäuser, Soziale Dienste, Jugend-, Alten- und Pflegeheime betreiben, ist zunächst einmal erfreulich. Der Bedarf ist gewiss gegeben. Weniger erfreulich ist dann jedoch der Umstand, dass die Finanzierung all dieser Einrichtungen weitestgehend vom Staat erfolgt, die Kirchen dort jedoch ihr ganz individuelles Arbeits- und Sozialrecht praktizieren dürfen. Besondere Bedeutung haben dabei die Loyalitätspflichten der Beschäftigten gegenüber der Kirche. Sie haben sich „an der Glaubens- und Sittenlehre und an der Rechtsordnung der Kirche auszurichten“. Verstöße dagegen können als Pflichtverletzung angesehen werden und im Extremfall zur Kündigung führen.

Ein weiteres Privileg sind Steuerbefreiungen. Kirchliche Einrichtungen zahlen beispielsweise keine Steuern auf Zinserträge oder Immobilien. Für Baugenehmigungen und für notarielle Beurkundungen werden keine Gebühren erhoben. Bekannt ist, dass sich die Kirchen, vor allem die katholische, in den vergangenen Jahrzehnten bei Straftaten von Kirchenbediensteten (vor allem bei Missbrauchsfällen) das Recht zur Strafverfolgung angemaßt und die öffentliche Rechtspflege übergangen haben. Dabei ist die Rechtslage eindeutig: Es gibt keine Ausnahmen von der Strafverfolgung für die Kirche und ihre Priester wie bei der Immunität von Parlamentariern oder Diplomaten. Es gibt auch kein Recht der Kirche – etwa unter Hinweis auf das Kirchenrecht und die eigene Strafgewalt –, ihre Institution von strafrechtlichen Eingriffen frei zu halten.

Ein wichtiger Punkt sind die Staatsleistungen, die die Kirchen seit 1919 für die Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgte Enteignung von Kircheneigentum erhalten und die jährlich rund 550 Mio. € betragen. Immer wieder wird gefordert, sie endlich zu beenden. Dieser Auftrag steht sogar in der Verfassung (Art. 140 GG), doch wurde er seit mehr als hundert Jahren nicht verwirklicht. Ein erster Anlauf ist 2021 gescheitert, nun will die Ampel laut Koalitionsvertrag einen neuen Anlauf nehmen und die jährlichen Zahlungen durch eine einmalige Zahlung ablösen. Wenn man die jährlichen 550 Mio. € kapitalisiert, ergeben sich knapp 10 Mrd. €. Die vierzehn betroffenen Bundesländer, die dies zahlen müssten, haben sich jedoch geschlossen dagegen ausgesprochen Sie sehen sich dazu nicht in der Lage.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.