Einzeltäter ist eine immer wieder umstrittene und hinterfragte Bezeichnung. Nun hat die Dokumentarfilm-Trilogie „Einzeltäter“ von Julian Vogel  am 11.11. auf der 47. Duisburger Filmwoche, dem Festival des Dokumentarfilms, den mit 6000 Euro dotierten 3sat-Preis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm erhalten. Thema des Filmemachers sind die rechtsextremen Anschläge von München, Halle und Hanau. Der „Einzeltäter“ ist eigentlich kriminologisch ein klarer Begriff, so Vogel. Aber in der öffentlichen Debatte sei er eher problematisch. Oft entstehe in den Medien ein Bild, das die Tat und ihre politische Bedeutung verharmlost.

Die Verwendung des Begriffs “Einzeltäter” wird  vor allem bei Fällen von Rechts- und Islamterrorismus regelmäßig in Frage gestellt. Damit würden oft das Umfeld und die Indoktrination als wichtige Ursachen ignoriert. Dabei bedeutet „Einzeltäter“ in der Sprache der Ermittler zunächst nur, dass sie davon ausgehen, dass es nur einen einzelnen Tatbeteiligten gegeben hat. Es wird lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass nicht eine Gruppierung tätig war. Die Bezeichnung „Einzeltäter“ sagt zunächst nichts darüber aus, ob dieser Täter in irgendwelche Strukturen eingebunden war

Die Frage nach den Hintergründen und Motiven ist davon nicht berührt. Auch wenn ein Täter allein Drohbriefe schreibt, sich Waffen besorgt und die Tat plant, heißt es nicht, dass er ohne Umfeld und ohne Einflüsse von außen handelt oder gar in allgemeiner Isolation lebt. An seiner Radikalisierung waren wahrscheinlich andere beteiligt. Bei manchen zunächst als Einzeltäter eingestuften Personen stellt sich dies im Laufe der Ermittlungen heraus, möglicherweise gab es sogar Mitwisser und Helfer.

„Einzeltäter“ heißt also nicht unbedingt, dass da jemand irgendwann grundlos durchdreht und zum Attentäter wird. Psychische Erkrankungen, gesellschaftliche Umstände oder menschenverachtende Ideologien können durchaus eine Rolle spielen. Verschwörungserzählungen treffen bei solchen Personen auf fruchtbaren Boden. Erst ein Kontakt mit extremistischen Gruppen macht manchen zu einer radikalisierten Person. Er meint, dort Vertrauen, Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl zu finden. Gewalt wird zum Erlebnis, zum Abenteuer, zum Ausdruck von Macht

Das Umfeld wird manchmal ausgeblendet, wenn man einen Tatanlass in der Persönlichkeit des Täters findet. Deshalb kann Vorsicht angezeigt sein, „wenn Polizei, Medien oder Politik die Verantwortlichen für schwere rechtsmotivierte Gewalttaten vorschnell als ‘Einzeltäter’ bezeichnen“. „Die Tat erscheint dann als losgelöst von extrem rechten Organisationen und gesellschaftlichen Diskursen. So wird sie lediglich als Ausdruck eines individuellen Hasses oder einer krankhaften Störung wahrgenommen.“

Die Jüdische Allgemeine formuliert rigoros:  „Es gibt keine rechten Einzeltäter.“ Juristisch sei es zwar relevant, ob eine Tat von einem Einzelnen oder von einer Gruppe ausgeführt wurde. Politisch sei es „aber irreführend, da es im rechtsextremen Milieu keine Einzeltäter gibt.“ Rechtsextremisten müssten nicht Mitglied in einer Kameradschaft sein oder sich regelmäßig treffen. Das Zugehörigkeitsgefühl entstehe auch auf anderen Ebenen. Informationsaustausch, Vernetzung, Motivation fänden nicht nur im realen, sondern auch im virtuellen Leben statt.  

Diese Ansicht ist ziemlich pauschal, denn es gibt tatsächlich auch „extremistische Anschläge,  die ‘Einzeltäter’ verübt haben. Darunter können Personen verstanden werden, die bei der Tatausführung allein und nicht im Auftrag von Dritten gehandelt haben. Nach allem, was wir bislang wissen, ist die Zahl dieser Täter in den letzten Jahren merklich angestiegen.“ So hat offenbar Anders Breivik 2011 in Oslo seine Anschläge allein geplant, vorbereitet und durchgeführt. Solche Einzeltäter haben allerdings oft eine Vorgeschichte mit psychischen Erkrankungen. Und sie dienen als Vorbild für andere Attentäter, Breivik z.B. für Brenton Tarrant, der 2019 Massaker in Neuseeländischen Moscheen verübte.

Dieser Abgrenzung folgend weisen terroristische “Einzeltäter” folgende Merkmale auf: Sie agieren allein, sie folgen keiner Gruppe, sie handeln aus eigenem Antrieb, zu einem von ihnen gewählten Zeitpunkt und in einer von ihnen gewählten Form. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass der Täter von einer extremistischen Gruppe ideologisiert oder dass er von gesellschaftlicher Stimmung motiviert wurde. Manche radikalisieren sich selbständig über Online-Videos und Manifeste anderer und entscheiden letztlich eigenständig, wann und wie sie ihre Attentatspläne realisieren. Andere sind möglicherweise sogar Teil einer global vernetzten Szene. Die alltägliche Hetze in Sozialen Netzwerken und Parlamenten bereitet oft den Weg zur Radikalisierung.

Das entscheidende Merkmal eines Einzeltäters besteht darin, dass der Anschlag oder das Attentat als konkrete Handlung vom Täter selbst ohne direkte Einwirkung von anderen Personen umgesetzt wurde. Der Begriff bezieht sich auf Tatplanung und -umsetzung. An dieser Einstufung ändert sich auch nichts, wenn die extremistische Gruppierung anschließend die Tat bejubelt und sie für sich in Anspruch nimmt.

Wenn im Internet Hass gegen Frauen, Juden, Israel, Ausländer, Politiker o.a. geschürt wird, die Gewalttat jedoch von einem Einzelnen begangen wird, spricht man neuerdings von stochastischem Terrorismus, einem Begriff aus der Wahrscheinlichkeitslehre: Je aufstachelnder der Einfluss, umso wahrscheinlicher der Gewaltakt. Auch wenn kein Aufruf zur Gewalt erfolgt und der Redner sich davon distanziert, können bei manchen Wut und  Hass erzeugt werden und Aggressionen veranlassen. Beispielhaft wird der Sturm auf das Kapitol und die Anfeuerung durch Trump genannt. Das Internet erleichtert es sehr, Stimmungen zu schüren, die irgendwann in Gewalt ausarten. Die Grenze zum strafbaren Aufruf ist dann oft fließend, und es wird schwierig, im Netz verbreitete Hetze strafrechtlich zu verfolgen.

Zur Abrundung ein paar Daten: 2022 gab es laut Bundeskriminalamt in Deutschland 5,6 Mio. Straftaten, von denen 3.2 Mio. aufgeklärt wurden. 59.000 galten als politisch motivierte Straftaten, 11.500 hatten Hass als Grund. Gewalttaten wurden gesondert ausgewiesen: 4.000 waren politisch motiviert, rund 10.00 wurden als Hasskriminalität eingestuft (überwiegend fremdenfeindlicher Art). Dabei unterscheidet das BKA folgende Rubriken: Feindschaft gegen Ausländer, Behinderte, Christen, Deutsche, Eliten, Ethnien, Frauen, Fremde, Juden, Männer, Moslems, Religionen, Sexuelle Orientierung, Sinti + Roma.

In der Gesamtbetrachtung kann man also drei unterschiedliche Typen von Einzeltätern erkennen: Erstens Personen, die allein agieren, keiner Gruppe folgen und aus eigenem Antrieb, zu einem von ihnen gewählten Zeitpunkt und in einer von ihnen gewählten Form handeln. Zweitens Personen, die zwar alleine vorgehen, aber durch eine extremistischen Gruppe ideologisiert und aufgestachelt wurden. Drittens Personen, die zwar das Attentat alleine begehen, jedoch im Kontext und in Absprache mit einer Gruppe oder als deren Mitglied handeln und von ihr unterstützt werden. Für Präventivmaßnahmen, Ermittlungsverfahren und Strafverfolgung kann diese Unterscheidung durchaus von Bedeutung sein.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.