Beueler-Extradienst

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Tod durch Unfähigkeit

Als ich den Bericht von TAZ-Reporter Wyputta über den Strafprozess gegen die Polizisten in Dortmund las, die den 16 jährigen Flüchtling Mouhamed Lamine Dramé derart unqualifiziert bedroht, drangsaliert und letztlich erschossen haben, machte sich im meinem Innern wieder diese kaum erträgliche Fassungslosigkeit breit, die ich schon damals, im August 2022, aufgrund von Presseberichten über die Tat empfunden habe. Und dies am 75. Geburtstag des Grundgesetzes, dessen Artikel 1 Satz 1 ständig zitiert wurde: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” Artikel 1 Den Satz 2 hörte ich nicht. Der lautet: ” Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Wie Dramé ums Leben gebracht wurde, war staatliche Unkenntnis dieses Satzes, Unfähigkeit im Amt in Tateinheit mit Verfassungsbruch.

Ja, es ist tragisch, wenn ein 28 jähriger Polizist, der sich über die Konsequenzen seiner Schüsse erschrocken hat, der bereut und den heute Selbstzweifel quälen, sich entschuldigt hat. Tragisch, weil ihm im Falle der Verurteilung das Ende seiner Polizeilaufbahn droht. Aber schon droht auch hier das Schicksal eines der Täter die Unsäglichkeit des Polizeieinsatzes zu überzeichnen. Der Sachverhalt ist weitgehend durch Zeugen belegt und unstreitig. Der senegalesische Jugendliche, der einen Bruder im Mittelmeer verloren hat, eine Odyssee durch verschiedene Fluchtländer hinter sich hatte und zweifelsfrei traumatisiert war, richtete ein Messer gegen sich selbst. Die Polizei, “Dein Freund und Helfer” wurde um 16.22 Uhr gerufen, um den jungen Mann vom Suizid abzuhalten. Anstatt zu deeskalieren, ihn zu beruhigen, wurde er bedroht. Er wurde zunächst von sechs, am Ende von elf Polizist*innen umzingelt, konnte nicht flüchten. Er wurde angesprochen, reagierte aber weder auf Englisch, noch auf Türkisch. Kein Wunder, im Senagel spricht man Wolof oder Französisch. Ein freundliches “Djamangam” – senegalesische Begrüßung, auf die ein “Djamarek” folgt –  hätte vielleicht das Eis brechen, ihn retten können. Aber ist eine Person zu finden, die das spricht, angesichts eines Menschenlebens zuviel verlangt? Auch eine Person, die französisch spricht, hätte schon hilfreich sein können. Wieso müssen Polizisten, die schließlich eine Fachhochschulausbildung haben, keine zweite Fremdsprache spechen? Nicht die unseres wichtigsten Nachbarn und EU-Partners Frankreich? –

In psychischer Not mit Pfefferspray angegriffen

Währenddessen richtet der Jugendliche immer noch das (Küchen-)Messer gegen sich selbst. Warum, wenn das schon so war, wurde kein des Französischen mächtiger Mensch gerufen? Wieso war dafür keine Zeit? Es ging um ein Leben! Welch ein Armtszeugnis! Warum war eigentlich keine Zeit, den erregten Jugendichen sich beruhigen zu lassen? Stattdessen wurde vom Einsatzleiter befohlen, einen psychisch in Not befindlichen Jugendlichen mit Pfefferspray zu drangsalieren. Angeblich, laut Einsatzleiter: “damit er sich die Augen reibt und dabei das Messer fallen lässt”. Spätestens in diesem Moment wird klar, dass die Menschenwürde des 16-jährigen für die handelnden Personen keinerlei Rolle spielte. Er wurde zum reinen menschlichen Versuchsobjekt, auf das mit völlig unverhältnismäßiger Gewalt eingewirkt wurde. Das ist an sich bereits eine Form von Unmenschlichkeit, ein Grundrechtsverstoß.

Der Teaser eskaliert die Situation weiter

Als die völlig absurde Spekulation des Einsatzleiters nicht eintraf und der schwer traumatisierte Flüchtling auf die Polizisten zuging – weil der vermutlich nicht verstand, was man von ihm wollte – erfolgte der zweite Angriff mit Teasern. Diese umstrittene Elektroschockwaffe, die bereits in einigen Fällen zu Todesopfern unter den Betroffenen geführt hat, senkt die Schwelle für Einsatzkräfte, dieses vermeintlich “harmlosere Mittel” des Schußwaffeneinsatzes anzuwenden. Aber der Teaser ging daneben, seine Wirkung verpuffte, weil der zweite Draht, den die E-Pistole ausstößt, fehl ging. Aber die wichtigste Frage bleibt: Was zum Teufel, soll ein Teaser-Einsatz gegen einen suizidalen Jugendlichen bringen, mit dem man bis dahin nicht einmal reden konnte?  Was ist das für eine Polizei, die anstatt eine psychologische Betreuung, eine sprachkundige Kontaktaufnahme und eine wirkliche Hilfe für einen offensichtlich Hilflosen zu organisieren, eine tödliche Gewaltorgie inszeniert, an deren Ende ein Toter und ein ratloser und verunsicherter Täter stehen?

Tötung nach 22 Minuten Mißachtung des Grundgesetzes

Der jugendliche Suizidgefährdete ging weiter auf die Polizist*innen zu. Und nun schießt ein junger Polizist, mit einer Maschinenpistole sechsmal. Und er trifft.  im Gesicht, am Hals, in Schulter, Arm und Bauch. Um 16.44 Uhr. Es ist kaum zu glauben: Der Einsatzleiter behauptet, das sei geboten gewesen, wegen der angeblichen “sieben-Meter-Regel”, die besage, dass Messerangreifer, die näher als sieben Meter auf die Polizei zugehen, unbedingt gestoppt werden müssen – zur Eigensicherung. Nur war es offensichtlich so, dass der Jugendliche das Messer weiter gegen sich selbst  und nicht gegen die Polizist*innen gerichtet hat. Der Einsatzleiter fühlte sich unter Druck „Soll ich warten, bis sich Herr Dramé ein Messer in den Bauch rammt?” – Ja, würde ich sagen – selbstverständlich! Denn hier zeigt sich auch in aller Deutlichkeit, dass der Sinn unserer Verfassung offensichtlich nicht in die Polizeiausbildung und die Hirne der Beamt*innen eingedrungen ist. Menschen, die täglich das staatliche Gewaltmonopol rechtsstaatlich ausüben sollen,  müssen wissen, dass die Verfassung über einer “Sieben Schritte Regel” steht. Alles, was hier scheinbar polizeitaktisch begründet eingesetzt wurde, widerspricht eklatant, ja es verletzt gravierend  Artikel 1 Satz 2 Grundgesetz:“Sie – die Menschenwürde – zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” 

Maschinenwaffe völlig unverhältnismäßig eingesetzt

Natürlich hätte der Einsatzleiter die Menschenwürde wahren müssen, indem er zunächst dafür gesorgt hätte, dass eine sprachkundige Person hinzugezogen wird, um die Situation zu entspannen. Und nun zum Einsatz der Maschinenpistole:  Ich kann mich noch gut an die damalige Begründung erinnern, warum die NRW-Polizei in ihren Fahrzeugen für “besondere Lagen” mit Maschinenpistolen im Kofferraum der Einsatzfahrzeuge ausgestattet wurde: Einsätze gegen Banden- und Clankriminalität, sowie im Rockermilieu, erforderten, wegen der schweren Bewaffnung der Straftäter im Bedarfsfall auf solche schweren Waffen zurückgreifen zu können.

Vom Einsatz oder auch nur der Verwendung einer solch schweren Waffe zur Eigensicherung war niemals die Rede. Sie wäre gegenüber einem 16-jährigen Flüchtling ein klarer Rechtsbruch, eine Überschreitung des Übermaßverbots der Notwehr oder Nothilfe, ein Verstoß gegen jegliche rechtlichen Sicherungen, die unsere Verfassung zum Schutz von Amtsträgern und Polizist*innen erlaubt. Und dann der Schuss, diese Treffer: im Gesicht, im Hals, in Schulter, Arm und Bauch. Vermutlich in umgekehrter Reihenfolge, denn diese Treffer deuten darauf hin, dass der junge Polizist die Waffe verrissen hat. Dass ihn der Rückstoß der Kriegswaffe MP völlig überrascht hat, dass er vermutlich daran überhaupt nicht ausgebildet worden ist. Wieso darf er dann eine solche Waffe überhaupt benutzen? Wieso hat er nicht, wenn er schon meinte, schießen zu müssen, mit der Dienstwaffe Kal. 9 mm auf die Beine gezielt, das probate Mittel, um eine Person zu stoppen?

Die Menschenwürde wurde vom Staat eklatant verletzt

Egal, wie dieser Prozess ausgeht – er ist ein Paradebeispiel für die Diskrepanz zwischen unseren verfassungsmäßigen Rechten und der Umsetzung in der alltäglichen Praxis. Ohne einen den Vorwurf des Rassismus vorschnell  erheben zu wollen, fand hier eine Grundrechtsverletzung durch die Polizei statt, die ihresgleichen sucht. Elf Beamte waren nicht in der Lage, eine Situation zu deeskalieren. Sie handelten offenbar  ohne jede Empathie für die Person, für den bedrängten Jugendlichen, ohne ein Mindestmaß an Menschlichkeit  für Mouhamed Lamine Dramé zuzulassen. Sie handelten ohne jede Kompetenz für diese Lage, ohne jeden Versuch, sich z.B. durch psychologische Beratung Dritter Unterstützung  zu holen. Der junge Flüchtling  war für die Verantwortlichen nur ein “Fall”, ein “Objekt” und Opfer, die verschiedenen mehr oder weniger ungeeigneten Instrumente polizeilicher Einsatztechnik zu erproben.  Der ganze Einsatz wurde dumm, unqualifiziert und stümperhaft durchgeführt. Das staatliche Gewaltmonopol hat auf der ganzen Linie versagt. Das rechtfertigt sehr wohl die Bestrafung und Entlassung des verantwortlichen Einsatzleiters aus dem Polizeidienst und möglicherweise auch die des Todesschützen aus Unfähigkeit.

“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Diese beiden Sätze sollten in jeder Poilizeiwache über der Tür stehen, über die Beamte ihre Dienststelle betreten und verlassen. Zur Erinnerung, für wen und warum sie hier Dienst tun..

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

4 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Das ist das, was “unten” ankommt, nicht das letzte Mal, wenn “oben” die real existierende “historische” (Baerbock, Faeser, Scholz) EU-Asylpolitik so konzipiert wird, wie sie heute ist. Anschaulich demonstriert hier von Jan Böhmermann:
    https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-24-mai-2024-100.html
    Die Strategie von von der Leyen: AfD-Ähnlichkeitswettbewerb noch vor der Wahl, und Putinähnlichkeit kein Hindernis für Anti-Flüchtlingspartnerschaft.
    Roland ist es gelungen, sachlich zu bleiben. Aber es fällt schwer. Sehr.

  2. Annette

    Das ist alles etwas, das mich nicht traurig, sondern wieder nur unfassbar wütend macht. Die Bewaffnung mit MPs, also Kriegswaffen, wurde von Herbert Reul angeordnet, oder? Wieso stoppt den niemand?

    • Roland Appel

      Weit gefehlt, Annette: Die MP’s wurden mit Erlass von IM Ralf Jäger (SPD) unter Rot-Grün und der Ägide Monika Düker (Grüne Fraktionsvorsitzende und Innenpolitikerin) im Herbst 2015 eingeführt. Herbert Reul sieht diese Waffen durchaus kritisch.

  3. Klaus Richter

    Lieber Roland,
    ich halte es gewagt, einen Sachverhalt rein aus Medieninformationen vor juristischer Aufarbeitung zu bewerten.
    Insbesondere wäre ich mit einer “Sofabeurteilung” eines Polizeieinsatzes als dumm, unqualifiziert und stümperhaft zurückhaltend.
    In einigen Aussagen liegst Du auch schlicht daneben!
    Freundliche Grüße aus dem Schwarzwald
    Klaus Richter

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