Lateinamerikas Weg in ein postfossiles Energiezeitalter

Bisher machen Rohstoffe einen Anteil von bis zu einem Drittel des Welthandels aus, und der Handel mit Rohstoffen wird sich noch vervielfachen. Dies stellt Länder, die fossile Energieträger exportieren, vor enorme Herausforderungen. Was sollen Venezuela, Mexiko oder jüngst auch Brasilien exportieren, wenn in 30 Jahren Öl nichts mehr wert ist? Es könnte der Weg in eine Dystopie sein. Lateinamerika hat in diesem Wandel aber auch eine Chance, sich von der historisch gewachsenen ungleichen Spezialisierung auf Rohstoffausbeutung und -export zu lösen.

Die Entwicklung des Kapitalismus beruhte zunächst auf der Verfügbarkeit fossiler Energiequellen wie Holz, Kohle und schließlich Öl. Mit deren Erschließung entwickelte sich ein globales fossiles Rohstoffregime, das Produktion, Handel, Verarbeitung und Ge- und Verbrauch von Rohstoffen regelt. Damit entstand eine zentrale Ungleichheitsachse der Weltwirtschaft. Nord und Süd trennt seither ein enormes Wohlstandsgefälle. Lateinamerika ist dem ebenfalls unterworfen: Es bildete sich einerseits enormer Reichtum (der Wenigen), andererseits große Prekarität und Armut der Massen.

Triebfeder dieser Ungleichheit aber ist nicht der Kapitalismus per se oder die politische Ausbeutung durch die Kolonial„herren“. Triebfeder ist das Auftreten von Renten. Wurden für die Industrialisierung die meisten Rohstoffe zunächst noch lokal gefördert, konnten mit neuerer Transporttechnologie im 19. Jahrhundert bald Lagerstätten im Globalen Süden, und hier insbesondere in Lateinamerika, erschlossen werden, die im Vergleich kostengünstiger waren.

Paradox Rentenökonomie

Die Länder Westeuropas und Nordamerikas förderten bei hohen Preisen weiter ihre eignen Rohstoffe, und der Süden verkaufte auf dem Weltmarkt zu Preisen des Nordens. Es entstanden große (Über-)Gewinne, eine Rente, die man nicht auf Investition, Arbeit und Produktivität zurückführen kann. Diese Übergewinne sind eine internationale Preisdifferenz, die auf den Verkauf „günstiger“ Natur, auf Produktivitätsunterschiede und vor allem auf eine hohe Nachfrage zurückzuführen sind. Im Durchschnitt der letzten 75 Jahre machen diese Renten einen jährlichen Anteil von etwa 15 Prozent des Wertes des gesamten Welthandels aus.

Renten führen international zu ungleicher Spezialisierung. Rohstoffländer erliegen regelmäßig diesen Übergewinnen. Renten verhindern sowohl lokale Technologieproduktion und lokales Lernen als auch die Überwindung struktureller Arbeitslosigkeit, Marginalität und Armut. Der Markt entscheidet nicht über die Verwendung der Renten. Sie können in Bildung, Forschung, Entwicklung und in den Ausbau von Arbeitsplätzen investiert werden, sie können aber auch zusätzlichen Konsum finanzieren oder in Klientelismus oder Repression fließen. Ungleiche Spezialisierung ist langlebig und die Geschichte Lateinamerikas wohl der deutlichste Nachweis: Seit mehr als 150 Jahren exportieren viele Länder des Kontinents nahezu ausschließlich Rohstoffe. Die globale Ungleichheitsachse zieht sich dabei aber auch durch die lokalen Gesellschaften, sie vertieft soziale Ungleichheiten.

Dies wird nun durch die Energie- und Rohstoffwende herausgefordert. Für Lateinamerika kann dies Fluch und Segen zugleich sein. Auf dem Kontinent lagern Reserven von kritischen Rohstoffen, die im postfossilen Energiezeitalter benötigt werden: Lithium, Kupfer, Graphit, Silber, Zinn, Nickel, Kobalt und Seltene Erden. Lateinamerika läuft mit diesem absehbaren Geldsegen jedoch auch Gefahr, die schon bestehende ungleiche Spezialisierung weiter zu vertiefen.

Drei Faktoren für die Zukunft der Rentenökonomie

Dafür sind unter anderem drei Besonderheiten der Preisbildung verantwortlich, die weniger mit dem Angebot Lateinamerikas in der Welt, also den Rohstoffen, als vielmehr mit der Struktur der Nachfrage, also den zukünftigen Käufer*innen, zu tun haben.

Erstens ist die Wahl der Technologie gesellschaftlich nicht neutral. Ist eine Gesellschaft egalitär, setzen sich eher Massenkonsumtechnologien durch. Ist eine Gesellschaft sehr ungleich, orientiert sich der Produktionsapparat auf Luxusgüter, da die breite Masse zu arm ist, die Reichen aber bereit sind, sehr viel zu bezahlen. Heute ist dieser Zusammenhang besonders relevant: Wenn eine sehr wohlhabende Minderheit in Deutschland dafür sorgt, dass teure und energieintensive SUVs en vogue sind und diese in naher Zukunft einen Großteil aller Neuwagen ausmachen werden, dann ergibt es politisch und ökonomisch tatsächlich Sinn, in Autobahnen zu investieren und klimaschädliche Subventionen aufrechtzuerhalten, statt den öffentlichen Nah- und Fernverkehr für die Mehrheit auszubauen. Nicht das Angebot an tollen Technologien entscheidet darüber, wie klimafreundlich die Zukunft sein wird. Die Struktur der Nachfrage, also die soziale Ungleichheit, setzt die Impulse, auf Grundlage derer sich Technologien durchsetzen.

Zweitens betrifft dies die Substituierbarkeit von Rohstoffen, also die Frage, wie Rohstoffe durch andere Rohstoffe ersetzt werden können. Es ist klar, dass mehr mineralische Rohstoffe für neue, klimaneutrale Technologie gebraucht werden. Welche Rohstoffe genau in Frage kommen, das hängt von der Technologie, genauer: von der in der Zukunft entwickelten Technologie ab. Es ist sicher schwer abzusehen, welche der heutigen Technologien sich durchsetzen werden. Was man jedoch aus der Geschichte lernen kann, ist, dass der technologische Pfad politisch nur schwer steuerbar ist. Einige Rohstoffe können mit wenig Aufwand durch andere ersetzt werden. Kohlekraftwerke können mit einigen Umbauten auch mit Gas betrieben werden. Metalle in Autos können ausgetauscht werden. Nur wenige Rohstoffe können überhaupt nicht substituiert werden, und genau diese Rohstoffe werden in Zukunft den Ton angeben. Dazu gehören Blei, Magnesium, Mangan und Seltene Erden wie Thulium, Dysprosium und Europium. Diese Rohstoffe besitzen Eigenschaften, die in vielen Technologien gefragt sind, die aber nur sie erfüllen können. Eben um diese Rohstoffe wird sich in Zukunft der Streit drehen, und gerade hier ist Lateinamerika weniger im Zentrum, als es bisher den Anschein hat.

Drittens richtet sich der Weltmarktpreis nach dem teuersten Anbieter, der gerade noch am Markt verkaufen kann. Saudi-Arabien produziert für 12 US-Dollar/Barrel, verkauft es aber zu 80 US-Dollar, eben dem Preis, bei dem Norwegen und die USA als teuerste Anbieter noch verkaufen. Diese Differenz ist aber entscheidend, da sie bestimmt, wie viel Geld die Produzent*innen einnehmen können. Deutschland strebt schon heute an, „kritische“ Rohstoffe im Land zu fördern: Lithiumabbau wird im Rheingraben und im Erzgebirge erprobt. Die Produktionskosten sind mit geschätzten 22000 US-Dollar/Tonne Lithium aber sehr hoch. Im Vergleich dazu liegen sie in Lateinamerika, etwa in Chile oder Argentinien, bei etwas über 2000 US-Dollar pro geförderte Tonne.

Es braucht Beschäftigungs- und Industriepolitik

Diese drei Faktoren zeigen: Wird das postfossile Szenario konkret, wird die Weltwirtschaft noch viel mehr durch Renten gekennzeichnet sein als bisher. Länder wie Chile und Argentinien werden sich enorme Extragewinne aneignen können. Im Unterschied zu vergangenen Rohstoffwenden, etwa am Beginn des Aufstiegs von Erdöl, setzt dieser Prozess heute jedoch unter den Bedingungen schon vertiefter Ungleichheiten ein, die selbst wiederum durch den Impuls der Technologiewahl auf die Gestaltung des Umbruchs zurückwirken.

Lateinamerika ist schon jetzt besonders betroffen, und dies unter prekären Vorzeichen. Ungleichheiten haben in den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen. Vertiefen sie sich noch weiter, wird man den Extraktivismus nicht überwinden. Eine neofeudale Dystopie wird unter diesen Vorzeichen immer wahrscheinlicher. Diese Dystopie beruht darauf, dass sich die ungleiche Spezialisierung im Weltmaßstab verfestigt, der Fokus darauf liegt, neue Rohstoffe zu fördern, und die zutiefst ungleichen Rentenökonomien bestehen bleiben.

Der Kampf gegen diese Dystopie ist entscheidend, um das postfossile Energiezeitalter für alle sozial gerecht und nachhaltig zu gestalten. Der Erfolg der Energiewende ist nicht nur eine technologische oder eine Ressourcenfrage, sondern er ist an Verteilungsfragen geknüpft. Für Lateinamerika kann dies aber auch eine Chance darstellen. Die Rohstoffwende muss als Katalysator verstanden werden, um soziale Ungleichheiten anzugehen, um ungleiche Spezialisierung zu überwinden.

Die Mechanismen sind klar: Es braucht Beschäftigungspolitik, die mit technologieorientierter Industriepolitik Hand in Hand geht. Sie kann dafür genutzt werden, klimaneutrale Technologien zu forcieren und dabei Infrastrukturen aufzubauen, die im angehenden Energiezeitalter wichtig sind. Dies wird nur gelingen, wenn parallel dazu durch Steuer- und Agrarreformen die eklatanten sozialen Ungleichheiten aufgebrochen werden. Nur wenn die breite Masse der Bevölkerung (lokal) ermächtigt wird, sich die Energiewende zu leisten, dann können sich Technologien durchsetzen, die dem Allgemeinwohl und nicht irgendwelchen Partikularinteressen der Reichen dienen. Kurzum: In Lateinamerika geht es um die Frage, ob der neue Boom die Rohstoffabhängigkeiten und Ungleichheit weiter vertieft oder zu einem tiefgreifenden Wandel führen kann.

Hannes Warnecke-Berger lehrt und forscht an der Universität Kassel. Mehr zum Thema hier. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 475 Mai 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Hannes Warnecke-Berger / Informationsstelle Lateinamerika:

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