Dass die Weimarer Republik an den rechten und linken Rändern, also KPD und NSDAP gescheitert sei, ist ein beliebtes Lügenmärchen der Geschichte, das sich seit den 50er Jahren in der Bundesrepublik wacker hält. Der Begründer der Politikwissenschaft nach dem Krieg in Bonn, Karl -Dietrich Bracher, war Verfechter der “Totalitarismustheorie”, die NS-Ideologie und Kommunismus gleichsetzte und dazu führte, dass unter anderem die Inlandsgeheimdienste seitdem auf dieser Grundlage die etwas primitivere “Hufeisentheorie” vertreten, nach der linksextrem gleich rechtsextrem sei – mindestens gleich schlimme Feinde der Demokratie seien. In Wirklichkeit war es das Versagen der bürgerlichen Mitte, die Hitler und die Machtergreifung möglich gemacht haben. Aber wie es das Versagen der bürgerlichen Mitte war, das Hitler an die Macht gebracht hat – so ist es heute wieder die angebliche bürgerliche “Mitte”, die kein Problem hat, die rechtsextremistische AfD zu wählen und die Demokratie in Frage zu stellen.

Wie kein anderes Dokument verdeutlicht dies ein Plakat der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei, der Partei des Entspannungspolitikers Gustav Stresemanns der 20er Jahre, aus dem Jahr 1930:

Drei Marschsäulen sind darauf abgebildet, die sich in Richtung eines stilisierten Adlers und eines Banners “Deutschlands Wiederaufstieg” ähnlich einer stilisierte Sonne zu bewegen. Die Linke Marschsäule trägt den Namen “DVP” und Transparente mit “Deutsche Volkspartei”, “Beamte, Bauern, Mittelstand” und “Freie Berufe Angestellte”. Die mittlere Marschsäule trägt das Banner “DNVP” – gemeint Deutschnationale Volkspartei, eine die Weimarer Demokratie ablehnende, rechtsnationalistische Partei des Verlegers Hugenberg, der eine ähnliche Macht, wie heute die Springer-Presse vereinte, und rechts die NSDAP Adolf Hitlers, nicht ausgeschrieben, sondern nur per Hakenkreuz markiert. Unterschrieben war das Plakat mit dem Text:  “Drei Heersäulen der Nationalen Front haben sich formiert. Die Deutsche Volkspartei (Liste 7) bildet mit anderen Parteien den christlich-nationalen Block. In ihm vereinen sich die Kräfte des nationalen Willens mit Besonnenhait und wirtschaftlicher Vernunft. Wer national richtig wählt, stimmt für die Deutsche Volkspartei, Liste 7”.

Weimars Versagen gegen rechts reichte bis zu den Linksliberalen

Selbst die linksliberale Deutsche Demokratische Partei Friedrich Naumanns, der Thomas und Heinrich Mann und Albert Einstein angehörten, und zu deren Stammwählerschaft die jüdischen Intellektuellen der Weimarer Republik gehörten, fiel tief gegen Ende der Weimarer Republik. 1930 fusionierten die Führungskräfte um Ernst Lemmer mit dem antisemitischen und antidemokratischen “Jungdeutschen Orden” zur Staatspartei.  Theodor Heuss nannte das “einen heimlichen Putsch”. Nach der Trennung von diesem Verein und 1933 mit nur fünf Abgeordneten im Huckepack-Verfahren gemeinsamer Wahllisten mit der SPD wieder im Reichstag vertreten, berieten die Linksliberalen über eine gemeinsame Haltung zum “Ermächtigungsgesetz”. Theodor Heuss setzte sich vehement dagegen ein, unterlag aber in der Abstimmung mit 3:2 – also stimmte auch die linksliberale DDP für Hitlers Diktatur. Es waren nicht die Ränder, es war die politische Mitte, die 1933 versagte. In der Asylpolitik und gegenüber der AfD zeichnet sich 90 Jahre später ein ähnliches Versagen der demokratischen Mitte ab.

Volksfront der Asylpolitik von AfD über CDU/CSU und Teilen der SPD und FDP bis zum BSW

Dieselbe rechte Verwirrung und ideologische Gemeinschaft zeichnet sich derzeit besonders deutlich in der Innenministerkonferenz und in den Sprüchen der ostdeutschen Ministerpräsident*inn*en ab. Sie machen sich die Hetze und das Ammenmärchen der AfD zu eigen, dass in Deutschland alles besser werde, wenn man nur die Flüchtlinge abschrecken und möglichst viele abschieben könne. Im Stile miesester Darsteller im Schmierentheater fordern bürgerliche SPD-Politikerinnen wie Nancy Faeser Abschiebungen von Straftätern nach Syrien und Afghanistan, wissend, dass das Ansinnen weder meschenrechtlich aufgrund der Lage im Zielland, noch rechtsstaatlich und ohne Verletzung von Gesetzen möglich ist. Denn wer hier Straftaten begeht, muss verurteilt werden und seine Strafe auch absitzen. Dass etwa der Täter von Mannheim in Afghanistan, dorthin abgeschoben,  als Volksheld gefeiert würde, muss man sich gar nicht erst ausmalen.  Möglich wären solche absurden Aktionen allein durch “dreckige Deals”, etwa Abkommen mit Unrechtsstaaten wie Turkmenistan, Usbekistan oder Tadschikistan zu unabsehbaren Kosten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte dem ein schnelles Ende setzen werden.

Rassismus als Antrieb bürgerlicher Spießer

Warum machen CDU/CSU, SPD und FDP das – und die Grünen schweigen dazu – obwohl seit Wochen und Monaten Menschen auf die Straße gehen, um gegen die AfD und Rechtsextremismus zu demonstrieren? Weil sie den Mut zur Wahrhaftigkeit längst verloren haben und zu faul, zu feige oder zu verantwortungslos  sind, um sich der Wahrheit über Migration und ihre differenzierten Ursachen und ihre relative Un-Abstellbarkeit  zu stellen? Ist das in der Politik des Jahres 2024 möglich? Da hat ein Migrationsforscher vor zwei Wochen im “Spiegel” dargestellt, dass sich die Migrationsquote der Menschen mit 0,35 Prozent der Bevölkerung seit 40 Jahren auf konstantem Niveau bewegt – nur dass eben Kriege für einen temporären und regionalen Anstieg verantwortlich sind. Dass ohnehin etwa 80%  der Flüchtenden immer im Bereich ihrer Nachbarländer bleiben.  Warum fällt unter den Tisch, dass 2024 etwa 20% weniger Flüchtlinge in die EU gekommen sind, als 2023? Dass die Asyl beantragenden Flüchtlinge mit 200.000 als Kostenverursascher wesentlich weniger ins Gewicht fallen, als 1,2 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine? Dass gleichzeitig das Rentensystem in Deutschland nicht aufrecht zu erhalten sein wird, wenn nicht jedes Jahr etwa 400.000 Menschen dauerhaft nach Deutschland einwandern? Dass überall Fachkräfte- und Hilfskräftemangel herrscht und auch deshalb die Kunjunktur nicht richtig in Gang kommt? Dass weniger Menschen in ein Land kommen, dessen Sprache wesentlich höhere Hürden aufstellt, als Englich oder Französisch – Sprachen, die in ehemaligen Kolonialstaaten zweite Amtssprache sind und Migration viel einfacher machen? Und wohlmeinende Regelungen wie das “Fachkräfteeinwanderunggesetz” oder die Möglichkeiten zur erleichterten Integration ukrainischer Arbeitskräfte nicht funktionieren?

Anstatt der AfD und rechter Hetze entgegenzutreten, machen sich die besagten Parteien mit der Rechten gemein, ebenso ihre Wähler. Es sind die nicht Verelendeten, es sind, siehe Sylt, die zum Teil mehr als wohlhabenden, die “guten Bürger” der Mitte, denen im Jahre 2024 wieder die Demokratie gleichgültig ist, wenn sie aus rassistischen Ressentiments AfD wählen,  ein Land abschotten wollen, das  von der EU und dem Weltmarkt am stärksten profitiert, und dessen Wohlstand auf Exporten und internationaler Anerkennung und Partnerschaft angewiesen ist.

CDU/CSU und FDP Arm in Arm mit der AfD/BSW

In ihrer Ideen- und Ratlosigkeit haben CDU und CSU längst vor der zutiefst rassistischen Logik der AfD kapituliert. Den Anfang machte vor zwei Jahren der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Haseloff, indem er einer Forderung der AfD folgte, die von dem zuständigen unabhängigen Expertengremium KEF vorgeschlagenen, lächerlichen Erhöhung der Rundfunkbeiträge um 58 Cent zuzustimmen und damit einen verfassungswidrigen Zustand in Kauf genommen zu haben. Er ging damit den ersten Schritt in die Richtung, in die die AfD ebenso wie aktuell die Rechte in der Slowakei geht, und Orban und die PIS gegangen sind. Die Kontrolle der Demokratie durch eine kritische Öffentlichkeit und Presse abschalten. Gleichschaltung nannte das Josef Goebbels. Eine Kapitulation der bürgerlichen Mitte vor den Rechtsextremisten. Dasselbe trifft für den sächsischen Ministerpräsidenten zu, der sich anschickt, um so vehementer all diese unrealistischen und teilweise absuren, zumeist aber vor allem rechtswidrigen Forderungen nach Lagern an den EU-Außengrenzen, in denen über Asylverfahren entschieden werden soll, oder Haftanstalten in Drittländern, in denen dasselbe erfolgen soll, zu fordern. Wie anders soll das gehen, als ohne Rechtsschutz, anwaltlichen Beistand, Rat und Hilfe von Flüchtlingsinitiativen bei Behördengängen und Anträgen – stattdessen rechtlose Internierung in Lager in verfassungsrechtlich mehr als zweifelhaften Staaten.

Bürgerliche Rechte auf Abwegen

Das aktuelle Problem der Demokratie ist nicht nur eine verlogene, absehbar zum Scheitern verurteilte Flüchtlingspolitik der CDU/CSU gegenüber Asyl beantragenden Flüchtlingen. Die neueste Eskalation der rassistisch motivierten Flüchtlingsdebatte sind die jüngsten Ausfälle der CDU/CSU – nicht etwa  der AfD – gegen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Sie sollten nur noch in Ausnahmefällen alimentiert werden, wenn sie glaubhaft dargestellt haben, dass ihnen keinerlei Mittel zur Verfügung stehen. Was bitte soll diese populistische Kehrtwende angesichts des sich hinziehenden Ukrainekriegs? Ist das christliche Solidarität?

Bereits im Mai hat der bayerische Innenminister Herrmann dafür plädiert, das Bürgergeld insbesondere nicht mehr an Männer zu zahlen, die eigentlich zum Wehrdienst in ihrer ukrainischen Heimat verpflichtet sind. Sind wir nun Teil der Rekrutierungsbemühungen des ukrainischen Staates und entscheiden deutsche Sozialbehörden künftig, wer in der Ukraine Kriegsdienst zu leisten hat? All dies führt zu einer Vertiefung der Ablehnung des Asylrechts in immer breiteren Bevölkerungsschichten, der Negierung von Humanität und der Bereitschaft zur Hilfe gegenüber Menschen, die genau das tun, was viele von den Nazis verfolgte Menschen in vielen Fällen vergeblich getan haben. Die deutsche Geschichte schert gerade denjenigen, die sich so gerne auf Konservatismus, die angeblich gute alte Zeit und auf Nationalismus berufen, einen Kehricht – geschweige denn, dass sie aus ihr irgendetwas gelernt hätten. Wie in Weimar droht die bürgerliche Mitte wieder in Sachen Demokratie zu versagen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net