von Rainer Bohnet

Mehr als 100 Wissenschaftler um den Ökonomen Thomas Piketty haben kürzlich einen Bericht zur weltweiten Ungleichheit vorgelegt. Analysiert wird eine global festzustellende Diskrepanz im Spektrum zwischen Reichtum und Armut. Dazwischen liegt die Mittelschicht, die weder reich noch arm ist, also relativ gut verdient und ihr Dasein ohne große Probleme meistert. Sie ist seit Jahrzehnten die stabilisierende Basis unserer Gesellschaft. Zu ihr gehören z.B. die Facharbeiter*innen in der Industrie, die Handwerker*innen mit Gesellen- oder Meisterbrief sowie die Beamtinnen und Beamten im öffentlichen Dienst.

Wieso droht die Zerquetschung der Mittelschicht, die unmittelbare Auswirkungen auf gesellschaftspolitische Entwicklungen hat, die wiederum die Demokratie in Mitleidenschaft ziehen kann?

Die Globalisierung der Weltwirtschaft gibt den Rahmen vor, der z.B. einem Land wie China den Sprung aus der Armut ermöglicht hat. Im Gegenzug wurde in Deutschland durch den prekären Arbeitsmarkt, die Niedriglöhne, sachgrundlose Befristungen, die Hartz-Gesetze und die Aufweichung der gesetzlichen Rente eine Gesellschaftsschicht geschaffen, die rund 40 Prozent der Menschen umfasst. Sie gehören zur sogenannten Unterschicht, dem Prekariat, dem es in der Regel nie gelingt, in die Mittelschicht aufzusteigen. Dort sind Kinder-, Familien- und Altersarmut die ständigen Begleiter ihres Lebens.

Der Mittelschicht droht der permanente Absturz in die Unterschicht. Wer z.B. arbeitslos wird, wird innerhalb von 12 oder maximal 24 Monaten nach unten durchgereicht und abgewertet. Ein Absturz, der vielen Menschen das “Genick bricht”. Angst macht sich in der Mittelschicht breit. Verbunden mit irrationalen Wahlentscheidungen und dem Erstarken von Rechtsradikalen und Populisten.

Am oberen Ende der Mittelschicht gibt es einen betonartigen Deckel, nämlich so gut wie keine Durchlässigkeit in die Oberschicht. Diese wiederum schottet sich ab und wird durch für sie günstige Steuerregelungen belohnt, die die Umverteilung von unten nach oben weiter beschleunigt.

Man fragt sich unablässig, warum die Politik diese Negativentwicklung nicht korrigiert. Wenn man aber realisiert, dass die Oberschicht in den Parlamenten überproportional repräsentiert ist und der Staat durch seinen Privatisierungswahn substanziell geschwächt wurde, sieht man deutlich, wo die Fehler zu suchen sind. Denn die Feinde der sozialen Absicherung sitzen nicht in China oder Indien. Die deutsche Volkswirtschaft wäre durchaus in der Lage, jeder Bürgerin und jedem Bürger ein auskömmliches Einkommen und eine niveauvolle Altersversorgung zu garantieren.

Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich die Feststellung, dass die Gewerkschaften mit einem Organisationsgrad von weit unter 20 Prozent ihre Gestaltungsmacht weitgehend verloren haben. Warum sie sich nicht stärker für Arbeitslose engagieren, bleibt ebenfalls ein Rätsel. Andererseits gebe ich die Gewerkschaften als geborenen Kooperationspartner nicht auf. Sie und die Zivilgesellschaft müssen Hand in Hand dafür kämpfen, die Unterschicht spürbar zu verkleinern, die Durchlässigkeit zwischen den Schichten nachhaltig zu erhöhen und die Wertigkeit von Menschen nicht nur ernst zu nehmen, sondern für sie soziale Perspektiven zu schaffen, die Armut in einem der reichsten Länder der Welt auszumerzen.

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