Sexuelle Übergriffe in Parlamenten – Jede vierte Frau Opfer von Gewalt; laut einer Studie sind sexuelle Gewalt und Belästigung in Parlamenten der Europarats-Mitgliedsländer Alltag. Täter sitzen oft in den eigenen Fraktionen.
In den Parlamenten der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates sind sexuelle Belästigung, Missbrauch und Gewalt gegen weibliche Abgeordnete und Mitarbeiterinnen weit verbreitet. Zu diesem Ergebnis kommt eine gemeinsame Studie der Interparlamentarischen Union (IPU) und‬ der parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), die am Dienstag in Genf veröffentlicht wurde. Hinzu kommt: In den meisten der Parlamente sind die Möglichkeiten für die betroffenen Frauen Beschwerden vertraulich einzureichen unzureichend. Zudem gibt es etliche Hürden um Ermittlungen einzuleiten und Sanktionen gegen die männlichen Täter anzugehen.

Laut Studie haben „85 Prozent der befragten Parlamentarierinnen psychologische Gewalt erlitten“ durch sexuelle Belästigung und Übergriffe. Aber auch durch körperliche Bedrohungen, sexistische Bilder von ihnen, anzügliche Texte über sie in den Medien oder Facebook, Twitter und andere Online-Plattformen. Fast 47 Prozent der Befragten wurden mit dem Tod, Vergewaltigung oder Schlägen bedroht.

Knapp 25 Prozent wurden Opfer sexualisierter Gewalt, weitere fast 15 Prozent der Befragten erlitten andere Formen körperlicher Angriffe. Die Gewalttäter waren zu 77 Prozent männliche Abgeordnete der eigenen Parlamentsfraktion oder anderer Fraktionen. Über 58 Prozent der befragten weiblichen Abgeordneten waren das Ziel sexistischer Attacken in Online-Medien. Und fast 68 Prozent wurden durch Bemerkungen über ihren Körper und andere geschlechtsspezifische Kommentare belästigt. ‭

IPU will Frauenanteil in Parlamenten erhöhen

Zur 1889 in Paris gegründeten IPU mit Sitz in Genf gehören als Mitglieder die nationalen Parlamente aus 178 der 193 UNO-Staaten. Zur jährlichen IPU-Generalversammlung kommen rund 1.200 Delegierte aus diesen Parlamenten zusammen. Eines der Hauptanliegen der IPU ist die Erhöhung des Frauenanteils in den Parlamenten. Bis 2020 soll er im Durchschnitt der 178 Mitglieder bei mindestens 30 Prozent liegen.

Für die Studie erhielten alle weiblichen Abgeordneten aus den nationalen IPU-Delegationen der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates sowie Parlamentsmitarbeiterinnen aus diesen Ländern einen ausführlichen Fragebogen. 81 Abgeordnete und 42 Mitarbeiterinnen aus 45 Parlamenten erklärten sich zur Beantwortung und zu vertraulichen Interviews bereit. Lediglich aus Malta und der Slowakei erhielt die IPU keine Antwort.

Die in der Studie wörtlich zitierten Antworten der insgesamt 123 Frauen wurden zu ihrem Schutz anonymisiert, so dass keine Rückschlüsse auf ihre Identität, ihr Herkunftsland oder ihre parteipolitische Zugehörigkeit möglich sind. ‭Die Studie zeigt ,dass auch in den Parlamenten eine große Mehrheit der betroffenen Frauen über die erlebte sexuelle Belästigung und Gewalt schweigt – aus Angst vor Repressalien, vor Jobverlust und anderen Nachteilen.

Rauswurf nach Beschwerde

Lediglich 23 Prozent der befragten Abgeordneten und nur 12,5 Prozent der Mitarbeiterinnen gaben an, sie hätten Beschwerden eingereicht. Eine Parlamentsmitarbeiterin berichtet in der Erhebung, dass sie nach einer Beschwerde über eine sexuelle Belästigung durch einen Abgeordneten ihren Job verloren hat. Der Täter sitzt aber nach wie vor völlig unbehelligt im Parlament. ‭

Diese Regionaluntersuchung der IPU in europäischen Parlamenten deckt sich im wesentlichen mit den Ergebnissen einer Studie, für die 2016 Frauen in 39 Parlamenten aus allen fünf Kontinenten befragt wurden. In den kommenden Jahren will die IPU auch Regionalstudien in Asien, Afrika und Lateinamerika durchführen. Die USA sind bislang nicht Mitglied der Organisation.

dazu der Kommentar des Autors:
Sexismus im Politikbetrieb – In Parlamenten werden Frauen gezielt kleingehalten. Männliche Abgeordnete, die Sexismus mitbekommen, müssen den Mund aufmachen.

„Alles im Leben dreht sich um Sex, nur nicht der Sex, der dreht sich um Macht“: Dieser Satz von Oscar Wilde gilt auch für Sexismus. Und er wird durch die Studie der Interparlamentarischen Union (IOU) über sexuelle Belästigung, Missbrauch und Gewalt gegen Frauen in Europas 47 nationalen Parlamenten einmal mehr bestätigt.

Wie bereits die im Kontext der #MeToo-Debatte geführten Interviews mit weiblichen Abgeordneten des Bundestages und des Europaparlamentes zeigt auch die IPU-Studie, dass sexistisches Verhalten und sexuelle Gewalt von männlichen Abgeordneten eingesetzt wird, um Frauen im Politikbetrieb klein zu halten, ihren Aufstieg zu behindern und die eigenen Machtpositionen zu sichern.

Das ist ein klarer Verstoß gegen die für alle Staaten völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung, „jegliche Form der Diskriminierung von Frauen zu beseitigen“ und ihre „volle, freie und sichere Beteiligung am politischen Prozess sicherzustellen“.

Um dieser Verpflichtung endlich nachzukommen, ist die Quotierung der KandidatInnenlisten für Parlamentswahlen, so wie die Grünen sie praktizieren, auch in allen anderen Parteien unerlässlich. Untersuchungen der IPU zeigen: In den Ländern, in denen der Frauenanteil im Parlament und in Folge auch in der Regierung am höchsten ist, ist das Problem von Sexismus im Politikbetrieb am geringsten. Das zeigt die Erfahrung in Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark und den Niederlanden.

In allen Bereichen des Politikbetriebes müssen vertrauliche Beschwerdeverfahren eingeführt werden

Zweitens müssen endlich in allen Bereichen des Politikbetriebes vertrauliche Beschwerdeverfahren eingeführt werden – ohne Risiko von Nachteilen für die Klägerinnen sowie verlässliche Mechanismen für Ermittlungen und Sanktionen gegen die Täter.

Drittens sollten männliche Abgeordnete den Mund aufmachen, wenn sich Kollegen sexistisch gegenüber Frauen verhalten. Dass das bisher nicht oder doch sehr selten geschieht, zeigen die kürzlich mit Bundestagsabgeordneten aller politischen Parteien geführten Interviews.

Diese Beiträge sind eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Andreas Zumach:

Andreas Zumach ist freier Journalist, Buchautor, Vortragsreferent und Moderator, Berlin. Von 1988- 2020 UNO- Korrespondent in Genf, für "die tageszeitung" (taz) in Berlin sowie für weitere Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten. Seine Beiträge sind in der Regel Übernahmen von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.