Buchbesprechung von Gert Samuel

Die Energie- und Klimapolitik ist in aller Munde. Nicht zuletzt sorgen die Schülerinnen und Schüler, die Studentinnen und Studenten mit ihren anhaltenden Streikaktionen dafür, dass sowohl die Verursacher der Klimaverschmutzung als auch die Alternativen wie die erneuerbaren Energien nicht mehr von der politischen Tagesordnung verschwinden. Ein zentraler Begriff ist bei alledem: Energiewende. Dieser wird von unterschiedlichen Akteuren sehr vielfältig und auch verwirrend verwendet. Die Autorinnen und Autoren des Buches „Die Energiewende in Europa. Eine Fortschrittsvision“ verweisen zurecht darauf, dass die Geschichte der deutschen Energiewende Ende der 1970er Jahre beginnt – nicht wie häufig formuliert 2011 nach Fukushima.
Das Team um Peter Hennicke formuliert gleich zu Beginn seine zentrale These: Europa brauche eine neue Fortschrittsvision, die in ein generelles sozial-ökonomisches Reformkonzept eingebunden werden müsse: „Eine richtig verstandene und umfassende Europäisierung der Energiewende“ habe das erforderliche Potenzial eines nachhaltigen Fortschrittsprojekts. Die „Europäische Idee“ müsse mit dem Ziel für 2050: ein Europa ohne fossile und atomare Energie zusammengeführt werden. Diese „echte Energiewende“ als Transformation des Energiesystems sei „Voraussetzung und Triebkraft für den Klima- und Ressourcenschutz“. Als Fortschrittsprojekt könne dies nur gelingen, wenn „die nationalen und internationalen Zusammenhänge zwischen der sozialen und der ökologischen Krise verstanden und integrierte Lösungsstrategien entwickelt und umgesetzt werden“. Eine europäische Energiewende erfordere eine Allianz, idealerweise angefeuert durch die Nachbarn Frankreich und Deutschland. Beschlüsse allein reichten dazu nicht aus, auf die zügige Umsetzung und rasches Handeln komme es an.
Ausgangspunkt sind die Lehren aus der deutschen Energiewende. Seit 1980 werde an der Energiewende gearbeitet; die Bundesregierung habe 2010 und 2011 – nach Fukushima – „revolutionäre Ziele“ für die Energiepolitik bis 2050 verabschiedet; die Wissenschaft gebe diesen Zielen Rückenwind; die sozialen Chancen der Energiewende werden ebenso betrachtet wie sich dafür ausgesprochen wird, diese als gesellschaftliches Projekt fortzuführen; weitere wichtige Stichworte sind Dezentralisierung, Prosumer, Bürgerenergiegenossenschaften und Rekommunalisierung; die Vorschläge der Kohlekommission werden vorgestellt und die Frage aufgeworfen, ob der „Markt“ beim Kohleausstieg helfe.

Würdigung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) fehlt

Bei alledem verwundert jedoch: Weder das Stromeinspeisegesetz von 1990 – als Vorläufergesetz – noch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) aus dem Jahr 2000 werden an irgendeiner Stelle erwähnt. Ebenso fehlen Zahlen und optische Darstellungen zum Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) von 1990 oder 2000 bis zur Gegenwart, die den sich vollziehenden grundlegenden Wandel im Strommix in Deutschland veranschaulichen würden. Die Autorinnen und Autoren zeichnen auf diese Weise ein etwas eigenwilliges Bild der deutschen Energiewende. Die Vorreiterrolle Deutschlands, die auf dem weltweit wirkenden Impuls des EEG basierte, bleibt ohne fundierte Erklärung. Dafür hebt das Wissenschaftlerteam die Synergieeffekte „zwischen mutiger Antiatombewegung und zunehmend atomkritischer Wissenschaft“ hervor, die „einen prägenden Einfluss auf die Durchsetzung der Energiewende in Politik und Zivilgesellschaft genommen haben“. Das mag so gesehen werden. Aber was verunmöglicht es den Autorinnen und Autoren, den bahnbrechenden Charakter des EEG, das aus einer Initiative aus der Mitte des Bundestags (Akteure waren Michaele Hustedt, Hans-Josef Fell, Hermann Scheer und Dietmar Schütz) entstand – manche sprechen nicht zu Unrecht von einer „Sternstunde der parlamentarischen Demokratie“ –, in die eigenen Überlegungen und Bewertungen einzubeziehen? Dank der grundlegenden Prinzipien einer auf 20 Jahre garantierten vorrangigen Einspeisung der EE und einer kostendeckenden Vergütung der so eingespeisten Strommengen ermöglichte das EEG es vielen Bürgerinnen und Bürgern, Energieproduzent*inn*en zu werden. Somit konnten sie die Energiewende in Deutschland bürgernah, dezentral und maßgeblich mitgestalten. Der Ingenieurwissenschaftler Volker Quaschning beschreibt häufig die treibende Kraft der Bevölkerung: Über 40% der 100 Gigawatt an Anlagen zur Stromerzeugung aus EE gehörte 2017 Privatpersonen und Landwirten; gerade mal 5,4% waren im Besitz der vier großen deutschen Energiekonzerne.
Das EEG hat das überkommene Energiesystem in der Tat „revolutionär“ in Frage gestellt und ist verantwortlich für den aktuell erreichten Zustand der Energiewende. Die Aktivistinnen und Aktivisten der „FridaysForFuture“ haben das erkannt, wenn sie unter anderem plakativ skandieren: „Worin wir unsere Zukunft sehn, Erneuerbare Energien.“ Anstatt die Suche nach den nächsten erforderlichen politischen Entscheidungen mit dem Ziel des konsequenten Ausbau der EE in das Zentrum ihrer Empfehlungen zu rücken, verlegt sich das Autorenteam auf seitenlanges Bedauern am Ausbleiben von Erfolgen bei der Steigerung der Energieeffizienz und am Fehlen eines „Masterplans“ für eine sozial-ökologische Transformation.

Minister Gabriel drosselte und deckelte die Erneuerbaren Energien

Die Autorinnen und Autoren informieren über den Stand der europäischen Energie- und Klimapolitik. Zum einen liefern sie eine Übersicht insbesondere über deren maßgeblichen Rechtsrahmen, bleiben allerdings Konkretes schuldig, wenn es um weitere Schritte zur zügigen Vollendung der Energiewende geht. Anregungen und Vorschläge zu Transformationsstrategien für eine europäische Energiewende sowie für eine deutsch-französische Allianz als Treiber der europäischen Energiewende schließen sich an. Erstere folgen meist dem vorherrschenden Mainstream, wenn vor allem „Efficiency First“ hervorgehoben wird. Das Autorenteam sieht darin „eine noch größere Herausforderung, als fossile und nukleare Stromerzeugung durch Strom aus erneuerbaren Energien zu ersetzen!“ Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die politischen Initiativen des damaligen Wirtschafts- und Energieministers Gabriel, der unter dem Schlagwort „Efficiency First“ die Energieeffizienz als zentrale Säule der Energiewende definierte und parallel dazu den Ausbau der EE drosselte und deckelte. Zudem reichen die Aussagen der vier Autoren und Autorinnen zur sozial-ökologische Transformation nicht an die die politische Debatte herausfordernden Erkenntnisse von Ulrich Brand und Markus Wissen („Imperiale Lebensweise“) heran. Schließlich wird mit der Betonung des Stellenwerts einer CO2-Abgabe die falsche Hoffnung genährt, eine Realisierung dieser Forderung könne als zentrales Mittel zum schnellen Erfolg der Energiewende führen.
Die Idee zu diesem Buch wurde laut der Autorinnen und Autoren im Diskussionszusammenhang mit der Arbeitsgemeinschaft Alternative Wirtschaftspolitik (AAW) entwickelt, die seit 1975 jährlich das „Memorandum“ – als alternatives Sachverständigengutachten – veröffentlicht. Mit einer gewünschten Erweiterung der „vorwiegend links-keynesianisch orientierten wirtschafts- und fiskalpolitischen Kritik am neoliberalen Mainstream mit Methoden und Themen der ökologischen Ökonomie“ könne „ein Beitrag zu intensiveren Nachdenken über die Wechselwirkung kurzfristiger sozioökonomischer und langfristiger ökologischer Trends geleistet werden“. Auf der Basis dieses Buches wird dieses Vorhaben nur bruchstückhaft realisierbar sein.

Verbindung mit der “Europäischen Idee” – ein gewagtes Unternehmen

Viele Absichten und Ziele, die die Autorinnen und Autoren mit diesem Buch verbinden, sind nachvollziehbar wichtig. Die vorgestellten Ergebnisse weisen auf eine unter Zeitdruck entstandene Arbeit hin, die aufgrund des Makels der Auslassung des EEG bei der Darstellung der deutschen Energiewende nur mangelhaft gelungen ist. Die formulierten Ansprüche konnten deshalb selten erfüllt werden, im Ergebnis gleicht das Buch eher einer Materialsammlung. Impulse für die Vollendung der deutschen Energiewende mit Erneuerbaren Energien enthält es nicht. Das Herstellen von Zusammenhängen mit einer sozial-ökonomischen Transformation bleibt in Ansätzen stecken. Und ob es politisch hilfreich und sinnvoll ist, die Europäisierung der Energiewende als Fortschrittsvision mit der Rettung der „Europäischen Idee“ zu verbinden, was ein gewagtes Unterfangen ist, bleibt offen. Die Konzentration auf angemessene Vorschläge für das zeitnahe Gelingen der Energiewende in Deutschland und in den – unter jeweils spezifischen Bedingungen sich befindlichen – anderen Ländern Europas erfordert ohnehin deutlich mehr und schnelleres politisches Handeln als es aktuell geschieht – sollen der Jugend bessere Perspektiven gegeben werden.

Peter Hennicke, Jana Rasch, Judith Schröder, Daniel Lorberg, Die Energiewende in Europa. Eine Fortschrittsvision, 192 Seiten, oekom, München 2019, ISBN-13: 978-3-96238-144-8, 20 Euro

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