Viele Menschen in meinem Umfeld, mich selbst eingeschlossen, erleben die Gegenwart in einem sehr ambivalenten Sinne als aufregende Zeit. Die Klima- und die Viruskrise werden als existenzielle Gefahr erlebt, für die Art Mensch, die wir kennen- und weitgehend auch lieben gelernt haben. Diese Krisen sind sowohl Folgen als auch Antrieb für die Umwälzung globaler Machtverhältnisse. Die Meisten haben sich ein Leben lang an sie gewöhnt, Andere ein Leben lang dagegen gekämpft. Aber, ob das, was kommt, das ist, wofür sie gekämpft haben? Das erscheint unwahrscheinlich.
Der weitblickende Intellektuelle Micha Brumlik/Blätter hat sich die chinesische Rezeption westlicher Philosophen genauer angesehen. Immanuel Kant, Carl Schmitt, Jürgen Habermas. Brumliks Sorge: Carl Schmitt werde in der chinesischen Verarbeitung weit ausgreifender genutzt, als die andern beiden. Mir sind solche philosophiegetränkten Texte beim Lesen zu schwergängig. Andererseits bin ich Brumlik dankbar, dass er sein Scheinwerferlicht auf chinesische Debatten richtet, die den meisten von uns durch die Sprachbarriere sonst verschlossen bleiben. Es ist wichtig, was in der Weltmacht der Gegenwart und Zukunft gedacht wird – egal wie gut es uns gefällt.
Weit eingängiger – aber Vorsicht: nicht optimistischer! – liest sich ein Interview von t-online.de mit dem Historiker Yuval Noah Harari. Immerhin ergeht er sich nicht in ausschliesslich apokalyptischen Vorhersagen; die, die er trifft, sind gewiss realistisch. Er zeigt auch: wie es kommt, ist offen. Es hängt von Entscheidungen ab, die wir jetzt treffen – und die gewiss nicht Regierungen und Oligarchien überlassen bleiben dürfen.
Meine letzte Leseempfehlung geht weit weniger an System-Fundamente. Obwohl: was den Journalismus betrifft, dann doch. Christoph Biermann war ein Jahr lang “embedded” beim 1. FC Union Berlin. Im Interview mit Jörn Kruse/uebermedien reflektiert er die Ambivalenz seiner Methode. Die sich heute kaum noch ein Medium leisten mag. Umso blasser und überflüssiger werden sie. Biermann ist es nicht, sondern weiterhin bester Fußballjournalist dieses Landes, meine ich. Was hätte er auch sonst werden sollen, als Kind des Ruhrgebietes?
Die Gesamtstimmung nach Lektüre solcher Texte könnte etwas melancholisch geraten. Wenn Ihnen das auch so ergeht, bedenken Sie: alle hier empfohlenen Gedanken stammen von (mittel-)alten heterosexuellen weissen Männern. Die stellen in der Gesamt-Weltbevölkerung nur eine Minderheit. Zwar verfügen sie überproportional über Macht. Aber das lässt nach, jetzt und hier, in unserer Lebenszeit.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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