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Schwabenfeindlichkeit

Die Nestbeschmutzer-“Tatorte” sind immer die Besten
Die Hauptstadt Berlin am Ostrand unserer Republik ist verdächtig. Dort soll die Schwabenfeindlichkeit a.o. verbreitet sein. Wenn es nicht so schrecklich illegal wäre, dann hätte Berlin gestern abend gewackelt und gebrummt von all den Tatort-Partys, die da gefeiert worden wären, wenn es nicht so furchtbar illegal wäre. “Schuld” wäre der ARD-Tatort aus Stuttgart gewesen, ein Gesamtkunstwerk von Dietrich Brüggemann: Buch, Regie und Musik. Er gehört in die Reihung der wenigen Tatorte, die im Gedächtnis einen gemütlichen Platz finden. Und mit über 10 Mio. Zuschauer*innen hat er der ARD-Programmdirektion gewiss die Augen glasig-feucht gemacht.
Ich habe selbst von 1977-1998 hier in Beuel (-Süd) in einer Wohngemeinschaft gelebt. Bei meinem Einzug bestand sie schon etliche Jahre. Sie war zu ihrer Zeit die längstexistierende in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, und Übernachtungsquartier zahlreicher antirassistischer Widerstandskämpfer*innen aus dem südlichen Afrika. Prominenteste in meiner Erinnerung war Frene Ginwala, die erste Präsidentin des ersten demokratisch gewählten südafrikanischen Parlaments. Interessant, dass Tatort-Macher Brüggemann 1984-88 als 8-12-jähriger im Apartheid-Südafrika aufgewachsen ist.
Mit Blick auf diesen Tatort wurde mir bestätigt, was ich zugegeben vorher schon wusste: meine WG-Zeit war ein aussergewöhnlich glückliches Los, das vorher so nicht zu erahnen war.
Wir waren eine politische WG, das Persönliche wuchs und ergab sich daraus. Ich erinnere nur eine wirklich ernsthafte Krise, als der Lebensgefährte einer Mitbewohnerin von unserem Hauptmieter gefeuert wurde, weil er unschuldigen Besucher*inne*n gegenüber zu aggressiv auftrat. Ich hatte meinerseits gute Fluchtmöglichkeiten als Politprofi. Da übernachtet mann gerne auch mal nach Terminen auswärts – konditionell für einen U40-jährigen kein Problem. Die WG endete 1997/98 durch eine Eigenbedarfskündigung der hausbesitzenden Familie. Das traf zeitlich zusammen mit der Familiengründung unseres Ältesten (= Hauptmieters), der mittlerweile mit seiner Frau in Köln-Porz zwei aussergewöhnlich wohlgeratene Kinder grossgezogen hat.
In meinem Bekanntenkreis habe ich seitdem keine vergleichbare WG entdeckt. Was heute in Mode ist, sind sog. Baugruppen. Darum scheint es sich in diesem Tatort gehandelt zu haben. Sie verheissen eine Art Notausgang aus den Unzumutbarkeiten des real existierenden kapitalistischen Immobilien- und Wohnungsmarktes – sind es aber natürlich nicht.
Das hat Herr Brüggemann kapiert und zeigt es, als Krimi verkleidet. Wenn Sie nicht selber so einer Baugruppe angehören (müssen), werden Sie ihn mit wachsender Schadenfreude gesehen haben. Und wenn Sie ihn verpasst haben, lohnt es sich, das nachzuholen. Schadenfreude ist doch die schönste Freude. Und wenn es nicht die Baugruppe ist, dann sind es halt die bekloppten Schwaben.
Optischer und dramaturgischer Höhepunkt: Kommissar Lannert verfolgt in seinem Porsche aus dem Baujahr 1978 (ein Jahr nach meinem damaligen WG-Einzug s.o.) einen flüchtenden Radfahrer durch Stuttgarts für die Dreharbeiten verkehrsberuhigte Vorortstrassen (dachte ich; tatsächlich wurden die Aussenaufnahmen in Karlsruhe gedreht, wo die Leute wert darauf legen, dass das in Baden ist, nicht in Schwaben! Andere Tatorte drehen in Bonn, und geben vor, aus Münster oder Köln zu sein). Die spinnen, die Schwaben. Und die Schwäbinnen sind auch nicht besser. Die Insel der Vernunft ist am Ende die Älteste (Christiane Rösinger), die im Schlussdialog mit Lannert (Richy Müller) die Moral von der Geschicht’ noch mal für alle zusammenfasst, die zwischendurch eingeschlafen waren. Das ist bei der ARD so Pflicht, die wissen warum. Aber keine Angst: ich schlafe vor der Glotze seeehr leicht ein; hier bestand mal “keine Gefahr” 😉

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

3 Kommentare

  1. Roland Appel

    Als Inhaber der doppelten Staatsbürgerschaft – Kölsch (geboren) und Schwäbisch (ab 13 dort pubertiert und politisch sozialisiert) muss ich natürlich anfügen, dass es halt im Ländle genauso isch:
    M’r hend Wohngemeinschafte mit esoterische Gedanke, weil dr Schiller und dr Mörike halt scho au des G’fühlte zom G’dachte erkannt hend. Ond wege dem Porsche muscht Du wisse, dass der Richy Müller ja oin echter schwäbischer Rennfahrer isch. Der hot im PorscheCup 2011-2013 die Sau ‘rausglasse ond is au bei de 24 Stunde vom Nürburgring scho mitgfahre. Da isch des doch eweng e Klacks mit dem Fahrrädle…

    • Martin Böttger

      Gibt es dafür schon eine Übersetzungssoftware?

  2. Karin Knöbelspies

    Lieber Martin, hat auch von uns die Spaltung schon Besitz ergriffen: Ich fand den gestrigen Tatort einfach nur langweilig. Sehr langweilig. Und des grad oder vielleicht au weil i an Schwob bin. Main Kumpel von de Fildere isch völlig fertig, so hot ihn des mitgnomma. Und mi au, weil des bloß saublede Vorurteile in dem Bärlin verschtärkt. Und au sonschtwo. Wo bleibt do de Idendidätsbolidik?

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