Am 10. April hat das Europäische Parlament radikale Verschärfungen des Asylrechts beschlossen. Das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (EAS) ist ein bitteres Geburtstagsgeschenk für die Genfer Flüchtlingskonvention, die 70 Jahre zuvor, am 22. April 1954, in Kraft getreten ist. Damals wurde das drei Jahre zuvor ausgehandelte „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, wie der offizielle Name lautet, wirksam. Nunmehr loten die Europaabgeordneten die Grenzen der Genfer Flüchtlingskonvention aus, um die Flüchtlingszahlen zu verringern. Die Presse spricht schon mal von einem neuen Dreiklang „abschotten, abschrecken, abschieben“.

Mit der Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1954 ein wegweisender Schritt in Richtung auf ein stärkeres menschliches Miteinander beschritten. Die Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Vertragsstaaten zur Einhaltung bestimmter Mindestregeln bei der Behandlung von Flüchtlingen verpflichtet. Zusammen mit einem ergänzenden Protokoll von 1967 bildet es den Grundstein des internationalen Flüchtlingsrechts. Um die Verwirklichung der in der Konvention niedergelegten Schutzstandards zu sichern, wurde dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) eine Art Aufseherfunktion zugewiesen.

Die Überlegungen, internationale Vereinbarungen zugunsten von Flüchtlingen zu schaffen, gehen auf die Zwanziger Jahre zurück. Die damaligen Flüchtlingsströme und -notlagen hatten viele Staaten veranlasst, Einwanderungsbeschränkungen zu erlassen. Eine erste Maßnahme war ein Abkommen, das russischen Flüchtlingen Aufenthaltsrechte gewährte und Fridtjof Nansen zum Hochkommissar für diese Personengruppe ernannte.

Auch andere Maßnahmen des Völkerbundes waren zeitlich und geografisch begrenzt. Ein weitere Aufgabe waren die Fluchtbewegungen aufgrund des griechisch-türkischen Kriegs. Andere Hilfen galten armenischen und assyrischen Flüchtlingen. Ab 1933 bemühte sich der Völkerbund um rassisch und politisch Verfolgte aus dem Dritten Reich. 1938 fand in Evian (F) eine Tagung über mögliche Hilfen für Flüchtlinge aus Deutschland statt. Aufgrund der restriktiven Haltung der beteiligten Staaten und später wegen des Kriegsbeginns blieben die Konferenzergebnisse weitgehend dürftig und wirkungslos. Die unzureichende internationale Aufnahmebereitschaft für jüdische Flüchtlinge war dann jedoch immerhin ein Anstoß für die Gründung der UN-Flüchtlingskommission (UNHCR) und die Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention.

Die UNHCR mit Sitz in Genf wurde 1950 durch die UN-Vollversammlung geschaffen. Ihre Hauptaufgabe ist die weltweite Versorgung und Unterstützung jener Menschen, die auf der Flucht vor Verfolgung, Krieg und Gewalt sind, und die Suche nach Lösungen für das internationale Flüchtlingsproblem, bis hin zur Integration und freiwilligen Rückkehr. Fast 11.000 Beschäftigte nehmen in rund 130 Ländern wahr, oftmals in enger Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen. Das Durchsetzungspotential  der UNHCR ist begrenzt. Sie hat keine Exekutivbefugnisse, keine Schutztruppen und keine Sanktionsmöglichkeiten.

Beim Abschluss der Genfer Konvention und der Gründung des UNHCR ging die Weltgemeinschaft davon aus, dass Flüchtlingshilfe eine zeitlich begrenzte und lösbare Aufgabe sei. Obwohl die Herausforderung gewaltig war: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Millionen „displaced persons“ zu betreuen, die vertrieben oder geflüchtet, zwangsweise umgesiedelt oder aus Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit entlassen waren. Nach 1945 waren mindestens 10 Mio. Deutsche auf der Flucht.

Flüchtlingsbetreuung war also keine vorübergehende, sondern eine dauerhafte Aufgabe. Die erste Herausforderung stellte sich bereits 1946, der Judenpogrom in Polen, ein heute weitgehend vergessener Terror. Die Nakba von 1948, die Vertreibung von bis zu 700.000 arabischen Palästinensern, war Anlass für die Vereinten Nationalen, eine spezielle Hilfsorganisation für Palästina zu gründen, die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East). 

Eine vollständige Aufzählung der weiteren Flüchtlingsströme ist nicht möglich: 1956 verließen 200.000 Ungarn nach dem gescheiterten Volksaufstand ihr Land; in den 60er Jahren bewirkte die Dekolonialierung gewaltige Völkerwanderungen in Asien und Afrika; 1975 flohen Hundertausende Boatpeople aus Vietnam, schätzungsweise 200.000 ertranken; 2017 vertrieb die Militärregierung von Myanmar 800.000 Rohingya nach Bangla Desh; 2015 flüchteten rund 5 Mio. Syrer/innen vor dem Diktator Assad. Aktuell beherrscht die Flucht aus der Ukraine die Debatte. Mehr als 6 Mio. Menschen haben das Land verlassen, etwa 1,15 Mio. leben in Deutschland und knapp eine Million in Polen.  

Für geflüchtete Ukrainer/innen gilt eine Sonderregelung. Aufgrund einer entsprechenden Genehmigung durch die EU wird ihnen nach Ankunft unverzüglich eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Im Vergleich zu anderen Flüchtlingen ist dies ein Spezialfall, da sie kein Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern sofort die gleichen Rechte wie anerkannte Asylbewerber erhalten. Damit bekommen sie auch Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Bürgergeld. 

Nicht überraschend ist, dass es gegen Sonderrechte für Ukrainer/innen Bedenken gibt. Da wird gefragt und überlegt, warum diese kurzfristig, großzügig und unbürokratisch behandelt werden, während dies für Flüchtlinge aus anderen Kriegsgebieten, z.B. Syrien oder Afghanistan, nicht gilt. Es wird spekuliert, ob es vielleicht daran liegt, dass Europäer/innen bevorzugt aufgenommen werden, dass der Ukrainekrieg Deutschland besonders berührt oder dass die meisten Ukrainer/innen Deutschland in absehbarer Zeit wieder verlassen wollen? Immerhin wollen Erhebungen des UNHCR zufolge zwei Drittel bei Kriegsende zurückkehren.

Derzeit sind weltweit rund 110 Mio. Menschen auf der Flucht, darunter 63 Mio. Binnenflüchtlinge. Die meisten kommen aus Syrien (6,5 Mio.), der Ukraine (6 Mio.), Afghanistan (5,7 Mio.), Venezuela (5,5 Mio.), Südsudan, Myanmar und Somalia. Bei den Staaten, die Flüchtlinge aufgenommen haben, liegt die Türkei mit 3,6 Mio. Personen an der Spitze, gefolgt von Iran (3,4 Mio.), Kolumbien (2,5 Mio.), Deutschland (2,1 Mio. einschl. Ukraine), Pakistan, Polen und Peru. Drei Viertel aller Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern.  Laut Angaben des UNHCR konnten zwischen 2010 und 2020 3.9. Mio. Geflüchtete und 3,1 Mio. Binnenflüchtlinge in ihre Heimatorte zurückkehren.

Höhepunkt der irregulären Einreisen in die EU war das Jahr 2015, als 1,04 Mio. Personen registriert wurden – im wesentlichen aus Syrien. Im Folgejahr sank die Zahl deutlich, und zwar zunächst auf 500.000. Danach waren es nur noch rund 200.000 bis 250.000 pro Jahr.

Erst seit Inkrafttreten des Zusatzprotokolls von 1967 kann die Genfer Flüchtlingskonvention ihre Wirkung voll entfalten. Bis dahin war ihr Anwendungsbereich auf die bis 1951 erfolgten Fluchtbewegungen und auf Europa beschränkt gewesen. Aktuell haben 149 Staaten das Zusatzprotokoll (und damit auch die Konvention) ratifiziert, einige allerdings mit dem weitgehenden Vorbehalt, dass für sie die Beschränkung auf Europa weiterhin gilt. Alle Mitglieder der EU sind Vertragsstaaten. Einige arabische und asiatische Staaten haben die Konvention nicht unterzeichnet.

Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention ist nur, wer gezwungen ist, sein Land wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung zu verlassen. Armutsmigranten, Umweltflüchtlinge und reine Kriegsflüchtlinge fallen damit nicht unter den Anwendungsbereich der Flüchtlingskonvention. Aber auch diesen Personengruppen kann Schutz gewährt werden. Zum Beispiel können nach EU-Recht Personen, die nicht als Flüchtling oder asylberechtigt anerkannt wurden, ein subsidiäres Schutzrecht mit zeitlich begrenzter Aufenthaltserlaubnis erhalten.

Eine trennscharfe Abgrenzung ist nicht immer möglich, dies führt immer wieder zu politischen oder rechtlichen Auseinandersetzungen. Deshalb ist in vielen Fällen eine Einzelfallprüfung angebracht. Eine besonders heikle Ausnahme ist, dass Binnenflüchtlinge – man geht derzeit weltweit von 40 Mio. Personen aus – nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Grundlage der Genfer Konvention ist das „Verlassen des Landes“. Als Flüchtlinge können nur Zivilpersonen anerkannt werden. Kriegsverbrecher, Soldaten und Personen, die gegen Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht verstoßen haben, scheiden aus. 

Die Genfer Konvention sichert den Flüchtigen kein Asylrecht zu und auch keinen Anspruch auf einen dauerhaften Aufenthalt, jedoch das individuelle Recht, nicht an einen Ort abgeschoben zu werden, wo Folter, Verfolgung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen („Non-Refoulement-Prinzip“). Darüber hinaus enthält die Flüchtlingskonvention einen ganzen Katalog von Rechtspositionen, die anerkannten Flüchtlingen zu gewähren sind. Dazu zählen vor allem Schutz vor Diskriminierung, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Zugang zu Gerichten, Ausstellung eines Ausweises, Eigentumsrechte, Zugang zum Arbeitsmarkt, Freizügigkeit und andere soziale und kulturelle Rechte. Hierdurch werden Flüchtlinge weitgehend den anderen Ausländern gleichgestellt. Im Gegenzug sind Flüchtlinge zur Einhaltung der Gesetze und Vorschriften des Gastlandes verpflichtet.

Regionale Abkommen wie die Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit von 1969 und die auf Lateinamerika bezogene Cartagena-Erklärung von 1984 erweitern in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich den Flüchtlingsbegriff auf Personen, die vor Krieg und Unruhen fliehen.

Offenbar bleibt die internationale Flüchtlingspolitik ein unverändert brisantes Thema, so dass zusätzlich zur Genfer Konvention und zum Protokoll von 1967 mehrere Ergänzungen erforderlich wurden. Als Reaktion auf die hohe Anzahl von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Binnenvertriebenen verabschiedete die UN-Generalversammlung im September 2016 die (nicht bindende) „New Yorker Erklärung“. 193 Staaten bekennen sich darin zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Prinzipien. Diese Unterstützerzahl ist ein Erfolg, denn die Konvention hat nur 149 Vertragsstaaten. 

Ende 2018 wurde ein zusätzlicher Rahmen für den weltweiten Flüchtlingsschutz vereinbart, der „Globale Pakt für Flüchtlinge“. Er soll die internationale Zusammenarbeit beim Flüchtlingsschutz fördern, insbesondere die Verzahnung von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung, und eine gerechtere Verantwortungsteilung innerhalb der Staatengemeinschaft erreichen. Parallel dazu wurde der „Globale Pakt für eine gesicherte, geordnete und reguläre Migration“ geschlossen. Er enthält globale Leitlinien für die internationale Migrationspolitik und soll die Herkunfts-, Transit- und Zielländer gleichermaßen einbinden.

Eigentlich könnte die Staatengemeinschaft stolz sein, eine Regelung wie die Genfer Flüchtlingskonvention (nebst Ergänzungen) geschaffen zu haben. Wenn sich nur alle daran halten würden! Leider gibt es immer wieder Verstöße gegen die Konvention. Insbesondere vier Artikel sind umstritten: Art. 1 Binnenflüchtlinge, Art. 24 Soziale Sicherheit, Art. 31 Straffreiheit und Art. 33 Abschiebeverbot.

Artikel 1: Voraussetzung für eine Anerkennung als Flüchtling ist, dass man aus seinem Land geflohen ist. Dies schließt alle Binnenflüchtlinge aus. Ein anderer Grenzfall sind Personen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden und ihr Land verlassen haben. Dieser Anlass wird in der Konvention nicht genannt, inzwischen jedoch zumeist anerkannt. Der Europäische Gerichtshof hat dies ausdrücklich bestätigt. Probleme bereitet erwartungsgemäß die Erklärung einiger Staaten, nur Flüchtlingen aus Europa anzuerkennen. Die Türkei nimmt daher Flüchtlinge aus außereuropäischen Staaten nur auf Widerruf auf. Ein Versuch Ungarns, sich auf christliche Flüchtlingen zu beschränken, scheiterte am starken öffentlichen Widerstand.

Artikel 24 garantiert anerkannten Flüchtlingen das Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit. Sie sollen die Chance haben, selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. In der Praxis ist es jedoch oft schwierig und langwierig, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Berufliche Tätigkeit und Integration werden dadurch oft Monate oder gar Jahre verzögert. Ein besonders negatives Beispiel ist Griechenland.

Artikel 31 besagt, dass wegen irregulärer Einreise keine Strafe verhängt werden darf, wenn sich die Geflohenen nach dem Grenzübertritt unverzüglich melden. Gegen diese Regelung verstößt vor allem Ungarn. Wer dort einen Asylantrag stellt, wird zunächst inhaftiert. Laut Pro Asyl waren in der Vergangenheit rund 2,000 Personen jährlich betroffen. Kürzlich hat Ungarn sogar ein Gesetz verabschiedet, das die illegale Einreise zur Straftat erklärt. Inhaftierungen werden auch aus Tschechien und Malta gemeldet.

Artikel 33 untersagt, einen Flüchtling in ein Land auszuweisen, in dem „sein Leben oder seine Freiheit“ bedroht wäre. Diese Bestimmung hat dazu geführt, dass Listen mit angeblich sicheren Herkunftsstaaten beschlossen werden, in die die Asylsuchenden abgeschoben werden dürfen. Entscheidendes Kriterium dafür ist dann diese Liste und nicht das persönliche Schicksal des Betroffenen. Immer wieder kritisiert wird die sogenannten Dublin-Verordnung der EU von 1997, wonach derjenige EU-Staat für das Asylverfahren zuständig ist, den der Flüchtende zuerst betreten hat, und nicht derjenige, in den er möchte. Damit sollen Mehrfachanträge verhindert werden. Zugleich wird aber die Last auf die EU-Staaten mit Außengrenzen beschränkt, was dazu führt, dass die Flüchtenden dort oft menschenunwürdig behandelt und untergebracht werden. 

Umstritten ist die Frage, ob die Genfer Flüchtlingskonvention auch in extraterritorialen Gebieten gilt, also auf hoher See oder in den Transitbereichen von Flughäfen. Deutschland vertritt die Auffassung, dass die Konvention erst mit Erreichen der Grenze oder des Landesinneren gilt. Nationale Gerichte, die herrschende juristische Meinung, der UNHCR und der Europäische Gerichtshof unterstützen dagegen die extraterritoriale Auslegung der Konvention.

Ein von der australischen Regierung veranlasstes Forschungsprojekt listete 2000 etliche (systemimmanente) Problemfelder in der Genfer Flüchtlingskonvention auf.

# Die Konvention geht davon aus, dass das Leben im Exil die vorrangige Lösung ist und nicht die Ermöglichung der Rückkehr.

# Sie enthält kein Verbot und keine Sanktionen gegenüber Staaten, die ihre Bürger/innen verfolgen und vertreiben.

# Sie berücksichtigt nicht den Tatbestand, dass Staaten mit den Auswirkungen einer großen Zahl von Schutzsuchender überfordert sein können, und äußert sich nicht  zum Thema Lastenverteilung.

# Sie akzeptiert die Bevorzugung von Flüchtenden, die mobil genug sind, Vertragsstaaten zu erreichen, gegenüber denjenigen, die in Flüchtlingslagern leben müssen.

# Sie folgt dem Ansatz, dass Schutzsuchende entweder politisch verfolgt und damit „echte“ Flüchtende sind, oder aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Tatsächlich sei jedoch in vielen Staaten wirtschaftliche Not, politisches Versagen, Armut und politische Verfolgung untrennbar miteinander verknüpft.

# Kritisiert wird dort auch, dass die Aufwendungen der Zielländer für die Überprüfung und Versorgung der Schutzsuchenden ein Vielfaches dessen betragen, was an das UN-Flüchtlingshilfswerk gezahlt wird, das eine weitaus höhere Zahl von Geflüchteten betreut.

Diese Kritikpunkte mögen zutreffend sein. Doch schon eine erste Analyse zeigt, dass sie wenig aussichtsreich und eher deklaratorisch sind. Realistisch ist die Forderung, die Finanzausstattung des UNHCR deutlich zu verbessern. Das gilt auch für die Unterstützung jener Staaten des globalen Südens, die die weitaus meisten Flüchtlinge aufnehmen. Ein dritter erfolgversprechender Ansatz wäre, die Gründe für Flucht und Vertreibung in den Herkunftsländern zielgenauer zu bekämpfen.

Viele Menschen machen sich auf schwierige und gefährliche Fluchtwege, weil sie vor Armut und Elend oder auch vor den klimatischen Veränderungen fliehen, die ihnen das Überleben unzumutbar machen. Diese Ursachen sind jedoch – wohl aus historischen Gründen – in der Genfer Flüchtlingskonvention nicht explizit genannt und bieten daher den Regierungen der Zielländer ein Argument, AsylbewerberInnen abzulehnen. Der Versuch einer Revision der Genfer Konvention und die Aufnahme neuer Gründe dürfte in der derzeitigen Weltlage aussichtslos sein und könnte eher zu einer Verschlechterung der Rechtslage führen. Die Absicht, einen Verteilungsmechanismus zu installieren, dürfte illusorisch sein. Dies klappt bekanntlich noch nicht einmal in Europa.

Der UN-Hochkommissar für Flüchtlingen äußerte sich anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Konvention alarmiert über Verstöße.  Immer wieder würden Staaten versuchen, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. Die hohe Zahl von Migranten und Flüchtlingen rechtfertige dies jedoch nicht. Wer verfolgt werde und nicht nur anderswo ein besseres Leben suche, habe einen uneingeschränkten Schutzanspruch.

Ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention seien die als „push back“ bekannt gewordenen Zurückweisungen, bei denen Flüchtlingsboote durch die griechische Küstenwache gewaltsam aus griechischen Hoheitsgewässern herausgedrängt werden. Deutliche Kritik äußerte er auch an den Plänen von Großbritannien und Dänemark, Asylsuchende in Drittländer zu schaffen, um ihre Asylanträge dort prüfen zu lassen.

Die Pläne des britischen Regierung, Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben, wurden vom Oberhaus zunächst abgelehnt. Es verlangte Sicherheiten, dass das geplante Gesetz mit nationalem und internationalem Recht übereinstimmt und dass der Nachweis erbracht wird, dass Ruanda ein sicheres Land für Migranten ist. Nach kleineren Korrekturen am Gesetzestext hat das Oberhaus jedoch zugestimmt. Zum Beispiel wurde Ruanda durch schlichte Gesetzgebung zu einem sicheren Staat ernannt. Und den britischen Gerichten ist es gesetzlich untersagt, sich mit der Wirksamkeit von Asylverfahren in Ruanda zu befassen.

Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens hat das Vorhaben für rechtswidrig erklärt. Er sieht Ruanda nicht als sicheres Land an und bezweifelt, dass die Menschen dort ein faires Asylverfahren erhalten. Er bezog sich dabei auf Berichte des UN-Flüchtlingshilfswerk über Folter, Hinrichtungen und andere Menschenrechtsverletzungen. So ist es schon bemerkenswert zu hören, dass in der Vergangenheit ruandische Staatsangehörige Asyl in Großbritannien erhalten haben.

Die Regierung von Großbritannien hat sich jedoch trotz der internationalen Kritik, der inländischen Proteste, der Ablehnung durch das Oberhauses und der negativen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs nicht von ihren Plänen abbringen lassen. Das jetzt beschlossene Gesetz sieht vor, jenen Personen, die irregulär einreisen, den Zugang zum Asylsystem zu verweigern und sie ohne Rücksicht auf ihre eigentliche Herkunft nach Ruanda abzuschieben. Dort könnten sie dann einen Asylantrag stellen. Das afrikanische Land bekommt im Gegenzug knapp 600 Mio. € aus London. Gerüchten zufolge soll Ruanda erklärt haben, nicht mehr als einige hundert Personen pro Jahr aufnehmen zu können.

Nach Ansicht des UNHCR ist dieses Verfahren ein klarer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Viele Flüchtlingen hätten eben keinen Zugang zu Pässen und Visa und seien deshalb gezwungen, irregulär einreisen. Überstellungen in sichere Drittstaaten – so der UNHCR – dürften nur erfolgen, wenn die Flüchtlingskonvention dort respektiert und eine gerechtere Verteilung der Flüchtlingen unter den Nationen erzielt wird. 

Es ist zu erwarten, dass der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landet. Der Menschenrechtskommissar des Europarates hat bereits protestiert und erklärt: „Die Regierung des Vereinigten Königreichs sollte davon absehen, Personen nach Ruanda  abzuschieben, und die in diesem Gesetz enthaltene tatsächliche Verletzung der Unabhängigkeit der Justiz rückgängig machen.“ Der britische Regierungschef hat indes bereits angekündigt, ausländische Gerichte zu ignorieren. Politische Hardliner fordern sogar einen Austritt aus dem EGMR.

Die Lage in der Europäischen Union ist schwierig. Alle Mitglieder sind Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, diese ist daher auch Bestandteil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Doch 2015 scheiterten die Bemühungen der EU um eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge. Seitdem sind der Schutz bzw. die Abschottung der Außengrenzen Schwerpunkt der EU-Politik. Die EU ist zu einer Art Festung geworden. Dort gibt es jetzt immer wieder Zurückweisungen und die berüchtigten „push backs“, vor allem durch die Staaten an den EU-Außengrenzen.

Für Fluggesellschaften und Schifffahrtslinien gilt ein Verbot, Menschen ohne gültige Visa zu befördern. Um zu verhindern, dass jemand wiederholt illegal einreist, wird eurodac genutzt, ein System zur Erfassung von Fingerabdrücken und seit 2025 auch von Gesichtsbildern. Frontex hat eurosur eingeführt: Drohnen, Aufklärungsgeräte, Satellitensystem, Sensoren, hochauflösende Kameras. So sollen irreguläre Flüchtlinge abgefangen werden, bevor sie europäisches Territorium erreichen. Staaten wie Ungarn, Griechenland und Österreich versuchen, Flüchtlingen durch eine menschenunwürdige Behandlung abzuschrecken. Die Schutzsuchenden reagieren entweder nicht oder suchen nach anderen Fluchtmöglichkeiten. So ist die Flucht übers Meer von Westafrika zu den Kanarischen Inseln zu einem neuen Schwerpunkt geworden.

Push Back nennt man das völkerrechtswidrige Abweisen oder Zurückdrängen von Schutzsuchenden, ohne ihnen Gelegenheit gegeben zu haben, einen Asylantrag zu stellen und dessen Ablehnung ggf. gerichtlich überprüfen zu lassen. An den Außengrenzen der EU kommt es immer wieder zu systematischen Menschenrechtsverletzungen. Immer brutaler wer­den die Methoden der Grenzschützer bei der Abwehr und Rückführung von Flüchtlingen. In Polen wurden Asylbewerber/innen über die Grenze nach Belarus zurück geprügelt. In Griechen­land drängt die griechische Küstenwache die Boote Schutzsuchender gewaltsam in Rich­tung Türkei. Vor Libyen unterstützt die EU-Grenzschutzagentur Frontex rechtswidrig die li­bysche Küs­tenwache bei der Einsammlung von Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer. Deren Schicksal in Libyen ist ungewiss, viele landen offenbar im Gefängnis. 

Italien hat 2017 das Rettungsschiff einer gemeinnützigen Organisation beschlagnahmt und die Verantwortlichen als Schlepper angeklagt. Erst jetzt sind die Verfahren eingestellt worden. Die Betroffenen sehen darin „eine öffentliche Diffamierungskampagne gegen die zivile Seenotrettung.“ Humanitäre Hilfe wird als kriminelle Schlepperei eingestuft. Nach sieben Jahren Zwangspause kann das Schiff jetzt wieder für seinen eigentlichen Zweck eingesetzt werden, die Seenotrettung.

Bilder von zerstörten Booten und verletzten Menschen sind fast alltäglich. All das sind Grundrechtsverletzungen und eindeutige Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Sie untergraben das Völkerrecht und schwächen die Position der EU beim anderweitigen Einsatz für Flüchtlinge. An allen relevanten EU-Außengrenzen (Griechenland, Bulgarien, Kroatien, Ungarn, Spanien oder Polen) finden völkerrechtswidrige Zurückweisungen statt. Italien und Malta sind sowohl an Push-Backs als auch an Pull-Back-Aktionen beteiligt (Zurückschleppen von Booten aus internationalen Libysche Gewässer).

Es ist völkerrechtlich unstrittig, dass das Abdrängen oder Zurückschleppen von Flüchtlingsbooten rechtswidrig ist. Im Gegenteil stellt sich sogar die Frage, ob die Küstenwachen von Griechenland, Libyen und Italien nicht verpflichtet sind, Schiffbrüchige zu retten. Völkerrechtlich ist eindeutig, dass Schiffbrüchige auf hoher See gerettet werden müssen. Das Seerechtsübereinkommen der UN von 1982 verpflichtet alle auf See befindlichen Schiffe zur Rettung in Seenotfällen, soweit dies ohne eigene Gefährdung möglich ist. Die Geretteten sind an einen sicheren Ort zu bringen, das muss jedoch nicht der nächstgelegene Hafen sein. Libyen wäre kein sicherer Ort, so dass niemand dorthin verbracht werden darf.

Bis 2013 war es vorrangige Aufgabe der italienischen Marinemission „Mare Nostrum“, Menschenleben zu retten. Schwerpunkt der EU-Nachfolgeoperationen „Triton“ (heute Themis im zentralen Mittelmeer, Poseidon im östlichen Mittelmeer und Indalo im westlichen Mittelmeer) ist seit 2015 die Sicherung der EU-Grenzen, die Bekämpfung von Schleppern und die Verhinderung der illegale Migration. Von 2015 bis März 2020 bekämpfte die Militäroperation Sophia das Schleuserwesen im Mittelmeer. Seit 2020 tut dies Irini. Sophia hatte nach EU-eigenen Angaben 143 mutmaßliche Schleuser festgenommen und 545 Boote zerstört.

Gezielte Rettungsaktivitäten für Schiffbrüchige gehören nicht mehr zu den Aufgaben der EU-Operationen. Seit 2019 konzentriert sich die EU ohnehin auf die Luftaufklärung. Systematische Rettungsaktionen erfolgen seitdem nur noch durch Schiffe privater Hilfsorganisationen. Niemand sonst würde sich um sie kümmern. Die Hilfe wird so schwer wie möglich gemacht: Den Rettungsschiffen wird das Einfahren in die Häfen bzw. die Ausschiffung der geretteten Flüchtlinge untersagt, die Rettungsaktionen werden aktiv behindert.

Allerdings gibt es keinen Anspruch darauf, in einen bestimmten Hafen eingelassen zu werden. Das praktiziert zum Beispiel Italien. Wenn jedoch der Treibstoff oder die Nahrung ausgehen oder Flüchtlinge schwer erkranken, muss der Staat des Festlands helfen. Ein Schiff ist kein schwimmendes Territorium des Staates, unter dessen Flagge es fährt – auch nicht außerhalb von Hoheitsgewässern. Daher können Flüchtlinge auf einem Rettungsschiff mangels zuständigem Ansprechpartner keinen Antrag auf Asyl stellen. Ob dies auch für staatliche Schiffe gilt, ist völkerrechtlich strittig.

2023 sind fast 60.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Von 2015 bis 2023 sind nach EU-Angaben mehr als 25.000 Personen ertrunken oder gelten als vermisst, 630.000 sollen laut EU gerettet worden sein, wobei vermutlich der weitaus größte Teil zurückgeführt worden ist, wahrscheinlich unter Mitwirkung der Grenzschutztruppen der Anrainerländer.

Die EU bzw. Frontex vertreten die Auffassung, dass die Rettungsschiffe die Zahl und die Bereitschaft der Flüchtlinge steigern, aufzubrechen und sich Schleusern anzuvertrauen. Allerdings ist es kaum vorstellbar, dass irgendwo in Afrika Menschen zum Mittelmeer ziehen, weil dort ein Rettungsschiff einer gemeinnützigen Organisation wartet. Laut UNCR trifft dies nicht zu. Eine von ihm veranlasste wissenschaftliche Studie hat (nicht ganz überraschend) ergeben, dass die Gründe für das Verlassen der Heimat andere seien.

Die taz kommentierte am 4. April unmissverständlich: “Heute ist von ‘Fluchtursachen bekämpfen’ keine Rede mehr. Europa will einfach keine Flüchtlinge mehr, zumindest keine außereuropäischen. Man bezahlt andere Länder nicht mehr für das Verringern von Fluchtursachen, sondern für das Unterbinden der Flucht.“

Im deutschen Recht gibt es sogenannte sichere Herkunftsländer, sie werden durch Gesetz definiert. Die Regierung geht dabei davon aus, dass dort aufgrund des demokratischen Systems und der allgemeinen politischen Lage keine staatliche Verfolgung zu befürchten ist und dass Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Schutz der Bevölkerung existieren und angewendet werden. Es gilt dann die sogenannte „Regelvermutung“, dass keine Verfolgungsgefahr vorliegt. Ergibt die Anhörung von Asylbewerber/innen keinen Anlass, an der Regelvermutung zu zweifeln, wird der Asylantrag abgelehnt. Sichere Herkunftsländer sind die Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Ghana, Kosovo, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Senegal und Serbien. 

Ein anderer Versuch der EU, die Flucht nach Europa einzudämmen, sind bilaterale Migrationsabkommen. Seit 2023 ist dies ein vorrangiges Instrument. Dabei gilt der Grundsatz „Geld gegen Abschottung“. Voraussetzung für die Zahlungen der EU ist, dass der Vertragsstaat die Fluchtmöglichkeiten Richtung Europa einschränkt, also die Migration eindämmt bzw. verhindert. Partner dürfen offiziell nur Länder werden, in denen „das Leben oder die Freiheit“ von Flüchtlingen nicht bedroht sind. Ansonsten wären laut Genfer Konvention Rückweisungen verboten.

Bislang gibt es solche Vereinbarungen mit der Türkei (2016), Libyen (2017) Tunesien (2023), Marokko (2024), Ägypten (2024) und Mauretanien (2024). Seit Dezember 2023 besteht auch ein Migrationsabkommen mit Georgien, das „die Zusammenarbeit bei der Rückführung von ausreisepflichtige Menschen stärken  soll“. 2023 kamen 15,6 % der in Deutschland abgelehnten Asylanträge aus Georgien und Moldau. Somit wird auch mit der Republik Moldau über ein Abkommen verhandelt.

Eine erste Vereinbarung traf die EU 2016 mit der Türkei. Ziel war, irreguläre Einreisen von Asylsuchenden zu reduzieren. Anlass waren die umfangreichen Fluchtbewegungen im östlichen Mittelmeer. Vorgesehen war, dass Personen, die auf dem Weg über die Türkei auf griechische Inseln und damit in die EU gelangt waren, wieder in die Türkei abgeschoben werden sollten. Andererseits sicherte die EU zu, im vergleichbaren Umfang schutzbedürftige Personen aus der Türkei aufzunehmen. Für die Grundversorgung von Flüchtlingen in der Türkei und für Grenzschutzzwecke stellte die EU sechs Mrd. € und 2021 noch einmal 3 Mrd. € bereit.

Befürworter des Abkommens verweisen darauf, dass seitdem deutlich weniger Menschen auf die griechischen Inseln geflohen sind. Die Zahl sank von 857.000 Personen 2015 auf 30.000 in 2017. Eine Entlastung für Griechenland war dies jedoch nicht, da inzwischen die Fluchtrouten über den Balkan gesperrt waren und daher alle Flüchtlinge in Griechenland blieben. Dies führte dort bekanntlich zu katastrophalen Zuständen. 

Griechenland stufte die Türkei als „Sicheres Herkunftsland“ ein und schickte die Schutzsuchenden zurück, z.B. Personen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesh und Somalia. Diese Einstufung ist jedoch fragwürdig, da die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur teilweise anerkannt hat. – 2020 stoppte die Türkei dieses Verfahren mit dem Hinweis auf die Coronapandemie, dabei blieb es.

Seitdem herrscht in Griechenland Chaos, zumindest im Flüchtlingswesen. Asylbewerber werden pauschal inhaftiert, selbst Minderjährige, oder in geschlossenen Lagern interniert. Die griechische Küstenwache drängt Flüchtlingsboote in Richtung Türkei zurück – und die EU-Institution Frontex schaut zu. Menschenrechtler sehen in vielen Belangen Verstöße gegen die Genfer Konvention und gegen Vorgaben der EU.

Möglicherweise haben das Abkommen von 2016 und die Zahlung von 6 Md. € sogar die türkische Volksabstimmung von 2017 beeinflusst.  Damals wurde das Präsidial­system eingeführt, das die Kompetenzen von Erdogan erheblich erweiterte. Die Abstimmung erreichte nur eine knappe Mehrheit von 51,4%. Zusammen mit der Tatsache, dass die deutsche Kanzlerin kurze Zeit zuvor dem türkischen Despoten ihre Aufwartung gemacht hatte, darf man vermuten, dass die entscheidenden 1,4% der Wählerstimmen der Großzügigkeit der EU und der Freundlichkeit von Angela Merkel zu verdanken waren. Gewiss nicht bewusst, aber grob fahrlässig.

Libyen ist der umstrittenste Vertragspartner. Im Februar 2017 haben zunächst Italien und sodann die EU ein Migrationsabkommen mit Libyen geschlossen. Beide Vereinbarungen dienen der Abschottungspolitik der EU im Mittelmeer und sehen eine massive Unterstützung der libyschen Küstenwache vor. Unter anderem werden ihr Schiffe und Ausrüstungsgegenstände geliefert. Seit 2015 hat die EU insgesamt 700 Mio. € bereitgestellt. Vorrangig sollen diese der Versorgung der Schutzsuchenden dienen. Offiziellen Angaben zufolge hat die Libysche Küstenwache zwischen 2017 und 2021 rund 90.000 Schiffbrüchige gerettet. 53.000 Personen seien in ihre Heimatländer zurückgekehrt.

Die Küstenwache konzentriert sich jedoch nicht auf die Rettung von Flüchtlingen. Sie hat Zehntausende Schutzsuchende völkerrechtswidrig nach Libyen zurück gezwungen und in Internierungslager oder Haftanstalten gebracht, UN-Experten sehen Beweise dafür, dass die Libysche Küstenwache wiederholt schwere Verbrechen gegen Migranten begangen hat. Sie seien dort Ausbeutung und Gewalt ausgesetzt und würden gefoltert, erpresst, vergewaltigt und ermordet. Manche würden sogar als Sklaven oder als Sexdienstleistende verkauft. Immerhin hat die EU in einem eklatanten Fall Aufklärung verlangt.

Mit Tunesien wurde im Juli 2023 ein Migrationsabkommen vereinbart, es ist allerdings noch nicht in Kraft. Mittelfristig soll Tunesien von der EU mit mehr als einer Milliarde € unterstützt werden. Im Gegenzug soll Tunesien die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer bremsen. Migrationsforscher hinterfragen allerdings, ob und mit welchen Mitteln Tunesien dazu in der Lage ist.

Anfang 2024 hat Deutschland mit Marokko eine enge „Partnerschaft“ in Migrationsfragen vereinbart, um die irreguläre Migration zu reduzieren und legale Arbeitsmigration zu stärken. Menschen ohne Bleiberecht sollen konsequent zurückgeführt werden, so Innenministerin Faeser. Die EU war schon früher tätig geworden. Sie hatte zwischen 2014 und 2020 rund 345 Mio. € dafür bezahlt, dass Marokko Migranten auf ihrem Weg nach Europa schon auf dem eigenen Territorium aufhält.

Im Februar 2024 unterzeichnete die EU ein Migrationsabkommen mit Mauretanien. Das westafrikanische Land hat zwar keine gemeinsame Grenze mit der EU, doch gibt es viele Migranten, die das Land auf dem Weg zur Flucht zu den spanischen Kanarischen Inseln durchqueren. Deren Zahl soll durch Bekämpfung der Schleusertätigkeit reduziert werden. Hierfür stellt die EU 210 Mio. EU zur Verfügung.

Ägypten ist – seit März 2024 – der vorerst jüngste Vertragspartner. In den nächsten vier Jahren sollen 7,4 Mrd. € von der EU dorthin fließen, geplant sind auch Investitionen im Ernährungswesen, in grüner Technologie und in Digitalisierung. Ägypten ist aufgrund seiner schlechten Wirtschaftslage dringend auf dieses Geld angewiesen. Das Land soll insbesondere die Grenzsicherung zum Sudan und nach Libyen verstärken, gegen Schlepper vorgehen und die Bedingungen in den Flüchtlingslagern verbessern. Dass Ägypten eine Militärdiktatur ohne Rechtsstaat und Demokratie ist, hat beim Vertragsabschuss offenbar keine Rolle gespielt. Kritiker befürchten zudem, dass die EU-Gelder in undurchschaubare Kanäle fließen.

Die weitgehende Hilflosigkeit der EU-Kommission, die Kritik im Europaparlament, die Verweigerungshaltung einzelner Mitgliedstaaten und die Rügen durch den Europäischen Gerichtshof setzten die EU unter Druck. Darum hat das Europäische Parlament am 10.4. eine in acht langen Jahren ausgehandelte Reform verabschiedet, das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“. Für die einen Abgeordneten ist das die Chance, „das kaputte Migrationssystem zu reparieren“, für die anderen ein Tag, „an dem sich die EU von ihren humanistischen Grundsätze verabschiedet“.

Mit Wirkung ab Frühjahr 2026 gilt nun, dass alle Neuankömmlinge wie bisher an den Außengrenzen registriert werden. Ihre biometrischen Daten werden gespeichert, um ihren Weg durch die EU besser kontrollieren zu können. Personen, die eine Gefährdung darstellen, die aus einem Land kommen, dessen Anerkennungsquote unter 20% liegt, oder die aus relativ sicheren Ländern stammen oder von dort eingereist sind, gelten als Schutzsuchende mit geringen Bleibechancen. Sie werden in geschlossenen Auffanglagern untergebracht, wo im Schnelldurchgang geprüft und entschieden wird, ob die Schutzsuchenden überhaupt einen Asylantrag stellen dürfen. Auch Kinder und Familien sollen in Lagern untergebracht werden, nur für unbegleitete Minderjährige sind Ausnahmen vorgesehen. Immerhin bleibt das Klagerecht gegen Ablehnungsbescheide erhalten.

Anerkannte Schutzsuchende sollen zügig an die westlichen und nördlichen Mitgliedstaaten weitergeleitet werden. Jene Staaten, die bisher keine Asylbewerber/innen aufgenommen haben, dürfen nunmehr wählen, ob sie dies künftig tun oder ob sie statt dessen finanzielle Beiträge leisten, sich also freikaufen wollen. Die dafür ursprünglich vorgesehene Bezeichnung „Rückführungspatenschaft“ taucht nicht mehr auf. Bekanntlich wurde sie 2020 zum Unwort des Jahres gewählt. 

Abgelehnte Schutzsuchende sollen zügig in sichere Drittstaaten „zurückgeführt“ werden. Darunter fallen laut Gesetz alle Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert haben oder „grundlegende Standards des Flüchtlingsrechts garantieren.“ Da tauchen sofort ein paar Fragen auf: Warum dürfen Staaten, die die Konvention NICHT ratifiziert haben, als sichere Staaten gelten? Wer prüft und beurteilt, ob diese „Oder“-Staaten tatsächlich die grundlegenden Standards des Flüchtlingsrechts garantieren? Welche Rolle spielen dabei Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte und autokratische Regierungen? Wieso gelten alle Vertragsstaaten der Konvention pauschal als sichere Staaten? Immerhin sind auch eklatante Menschenrechtsverletzer darunter. Offenbar werden die Anforderungen an sogenannte sichere Staaten weit heruntergeschraubt.

Der neue Asylpakt wird kaum in der Lage sein, die Zahl der ankommenden Flüchtlinge zu begrenzen. Er soll wohl in erster Linie dazu dienen, politische Handlungsfähigkeit zu beweisen und das Thema „Migration“ nicht rechtsextremen Gruppen zu überlassen. Der Pakt wird nicht dafür sorgen, dass das menschenverachtende Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten und die widerrechtlichen Blockaden an den Grenzen aufhören. Es hat die osteuropäischen EU-Staaten – die sogenannte Visegrad-Gruppe – nicht dazu bewegen können, eine Quote anerkannter Flüchtlingen aufzunehmen. Er enthält auslegungsfähige Formulierungen, die zum Missbrauch einladen. ­Manche der Neuregelungen dürften vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.