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Klittert Deutschlandfunk die Geschichte?

In der Regel gilt der Deutschlandfunk, zumindest was historische Dokumentationen oder Reportagen betrifft, als zuverlässige Quelle. Mit seiner Sendung zur Geschichte des Volkszählungsboykotts von Autor Norbert Seitz hat er jedoch einen Beitrag gesendet, der, wäre es ein Film, die “Goldene Himbeere” des schlechtesten Machwerks des Jahres verdient hätte.  Der Bericht strotzt vor falschen Informationen, Verdrehungen der Zusammenhänge und grenzt an Geschichtsklitterung.

Ich äußere diese Wertung als einer derjenigen, die zu den Organisator*inn*en des Widerstandes gegen die Volkszählung 1987 gehörten und an der Schnittstelle zwischen grüner Bundestagsfraktion und dem bei den Jungdemokraten in der Hauptstadt Bonn eingerichteten “Koordinierungsbüro gegen den Überwachungsstaat” die wesentlichen Entwicklungen vorbereitet, begleitet und parlamentarisch betreut habe. Der Volkszählungsboykott 1987 wurde von den Grünen, den Bürgerrechtsorganisationen Deutsche Vereinigung für Datenschutz, Humanistische Union, Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Initiative “Bürger beobachten die Polizei” und der Gustav-Heinemann-Initiative unterstützt. Die Expert*inn*en kamen aus einem breiten Spektrum aus Informatik und Verfassungsrecht,  wie Prof. Klaus Brunnstein, Dr. Götz Aly, Dr. Wolfgang Hippe, Dr. Rolf Gössner, Dr. Ruth Leuze, u.v.a., darunter viele Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter. Im Kern jedoch handelte es sich um eine linksliberal-bürgerrechtliche “Bewegung”, deren Ziel es nicht war, die Volkszählung zu verhindern, sondern eine breite gesellschaftliche und kritische Diskussion zur Verankerung des Datenschutzes im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Damit war sie überaus erfolgreich.

Datenschutz im Bewusstsein verankert

Dieser Erfolg ist von selbsternannten “Sicherheitspolitikern” jahrzehntelang beklagt worden, oder sie versuchten mit Parolen wie “Datenschutz ist Täterschutz” die Vorratsdatenspeicherung durchzusetzen oder – “Datenschutz schadet dem Standort” – Konsument*inn*enrechte zugunsten der Industrie auszuhöhlen. Dass die europäische Datenschutzgrundverordnung heute sogar in den USA als weltweiter Standard akzeptiert wird, deren Prinzipien wie Datensparsamkeit, Zweckbindung und Recht auf Vergessen alle auf die VoBo-Bewegung zurückgehen, kommt im Beitrag von Seitz nicht vor. Anstelle von historischer Recherche stützt er sich lieber auf 68er Romantik des eher peripher tangierten, geschätzten Kollegen aus dem MdB-Büro Hans-Christian Ströbeles.

Streit um die Rolle der Grünen

Der von Seitz als “Zeitzeuge” präsentierte Kollege Udo Knapp hat damals vehement versucht, die Kooperation der Bundestagsfraktion mit der “Bewegung” zu beeinflussen, wollte die außerparlamentarischen Initiativen durch die Partei dominieren, was die überparteiliche Zusammenarbeit sofort gesprengt hätte. Er hat sich damit nicht durchsetzen können.

Zahlreiche weitere Fakten, die Autor Seitz und sein Zeitzeuge benennen, sind falsch. Es gab nicht 5.000, sondern etwa 1.200 Initiativen bundesweit, und sie wurden nicht vom Büro Ströbele “koordiniert”.  Ein Blick in Quellen z.B. “Vorgänge” Nr. 91 v. 1.1.1988 mit Beträgen von Brunnstein, Appel, Hummel et.al. oder “Verzählt” Hg. Jürgen Arnold und Jutta Schneider, 1988, “Die Neue Sicherheit” Kölner Volksblatt Verlag 1988,  hätte genügt, um diesen Fehler zu vermeiden. Ströbele hat das Vorwort für unser Buch “Vorsicht Volkszählung” geschrieben und die Bewegung immer unterstützt. Udo Knapp war bis auf ein paar einzelne Veranstaltungen in diesem Bereich überhaupt nicht tätig.

Mit Krawallen ursächlich nichts zu tun

Die Behauptung von Seitz, dass der “revolutionäre 1. Mai” in Kreuzberg seit 1987 wegen der Volkszählung regelmäßig “gewalttätig” verlaufen sei, ist blühender Unsinn und diffamiert die friedliche VoBo-Bewegung. Richtig ist, dass ein Boykottzentrum von der Polizei überfallen wurde, aber Tatsache ist auch, dass seit Ende der 70er Jahre in Berlin der “Revolutionäre 1. Mai” in jedem Jahr von Krawallen begleitet wurde. Hier musste wohl das Weltbild des Autors zur Geschichtsverfälschung herhalten.

Bewegung erweiterte Bürgerrechte

Die “Bewegung” – es fanden vier bundesweite Konferenzen mit bis zu 450 Teilnehmern statt – war auch nicht “über nur 2% Boykott enttäuscht”. Die angeblichen 2% waren eine Schutzbehauptung von Innenminister Zimmermann (CSU) – selbst Egon Hölder, Präsident des statistische Bundesamts, gab auf einer Veranstaltung in der Kölner Uni hinter vorgehaltener Hand 10% Boykott zu. Aber um diese Art Erbsenzählerei ging es von Anfang an nicht, sondern um eine umfassende Datenschutzdiskussion über maschinenlesbare Personalausweise, das Zentrale KfZ-Zeichenregister, Terrorismusdateien, die damals von IM Zimermann verschärften Geheimdienstgesetze und die Demokratisierung vieler kommunaler Entscheidungen sowie die Einsetzung kommunaler Datenschutzbeauftragter. Die Teilnehmer*innen der Veranstaltungen diskutierten über einen falsch verstandenen Datenschutzbegriff, wenn z.B. Chemieunternehmen Daten über Giftimmissionen mit Hinweis auf Datenschutz verweigern und über ein – Jahre später geschaffenes – Informationsfreiheitsgesetz. Und sogar der Zensus wird heute fast so durchgeführt, wie es die Kritiker*inn*en damals gefordert haben: Wenige Daten aus den Melderegistern und freiwillige, anonyme Befragungen einer Stichprobe.

Zusammenhänge missverstanden

Nächster sachlicher Fehler: Der Beitrag erweckt den Eindruck, als wäre das Bundesdatenschutzgesetz erst 1990 beschlossen worden – das ist falsch, es wurde novelliert und zwar damals zum Schlechten. Das BDSG trat bereits am 1.1.1978 in Kraft und wurde 2018 weitgehend – bis auf den “staatlichen Bereich” von der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) abgelöst. Die Geschichte des Datenschutzes als einen friedlichen Kampf um mehr Privatsphäre und Teilhabe erkennen weder der Autor, noch sein Zeuge.  Was der liebenswerte Altrevoluzzer Udo Knapp als Motive für den Boykott beschreibt, mag seiner persönlichen Kreuzberger Szeneromantik entsprechen, hat aber mit den Fakten eines Bündnisses, das von Grünen, Liberalen, Gewerkschaften wie IG Druck, GEW, Evangelischer Jugend, Jusos, Jungdemokraten bis hin zu gewaltfreien Autonomen ging, nichts zu tun. Es ging im Kern um die Frage der Mitbestimmung und Teilhabe an staatlichen Planungen und Entscheidungen und auch gegen Behördenwillkür, die sich in vielen Fällen ereignete, so z.B. in der völlig unverhältnismäßigen Beschlagnahme eines Mittelklasse-PKW einer Bürgerin in Langenfeld, die die Zählung und das Zwangsgeld verweigert hatte – dokumentiert vom WDR 2017.

Katz und Maus

Weil alle Initiatoren der Bundestreffen von 1986 an darauf geachtet haben, den damals auch stattgefundenen Versuch einzelner szenebekannter Gruppen und sogar Provokateure unbekannter Herkunft, von den Entscheidungen über phantasievolle Aktionen oder bürgerlichen Ungehorsam auszuschließen, verlief die ganze Bewegung ausnahmslos friedlich. Natürlich wurden die Plakate der Kampagne “beschädigt”, indem Sprüche verändert, ergänzt oder humoristisch verfremdet wurden. Aus “Zählen hilft allen” wurde: “Boykott hilft allen!” Aber auch die staatliche Seite wurde kreativ: Zum Fussball-Länderspiel in Dortmund hatten unbekannte “Boykottiert und sabotiert die Volkszählung” am Vorabend unlöschbar in den Rasen tätowiert. Ein Austausch war so kurzfristig nicht möglich. Von Weizsäcker selbst soll die Idee gehabt haben, zu ergänzen: “Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht!” Natürlich waren die verschiedenen Texte zu erkennen und beide Seiten konnten darüber schmunzeln.

Lachen und Entsetzen oft dicht beieinander

Nicht lustig war dagegen, dass im Verlauf der Kampagne etwa der Staatsschutz Baden-Württemberg 653 VoBo-Veranstaltungen landesweit zwischen März und Oktober 1987 beobachtete. Und wer welches Flugblatt verteilt und wie die Teilnehmer*innen gekleidet waren (erstaunlich gutbürgerlich), registrierte der “polizeiliche Meldedienst”. Ohne die couragierte Landesbeauftragte für den Datenschutz, Dr. Ruth Leuze, wären diese Überwachungsmaßnahmen nicht ans Licht gekommen.  Angefangen hatte es bereits im Januar 1987, als Dr. Fritsch, niedersächsischer Verfassungsschutzpräsident und Sozialdemokrat, in einem geheimen Vermerk Grüne, Humanistische Union, Jungdemokraten und Jungsozialisten sowie den linksliberalen Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein und ihre Kritik an der Volkszählung als “extrenistische Aktivitäten” bezeichnete. Jahre später wurde diese staatliche Diffamierung vom Niedersächsischen Verfassungsgericht als rechtswidrig beurteilt.

Lernziel Zivilcourage

Dass ein anderer Sozialdemokrat und Innenminister das ganz anders sah, zeigt eine kleine Geschichte am Rande des Geschehens: Weil sie dieses Koordinierungsbüro unterhalten und ein Info gegen die Volkszählung gedruckt hatten, meinte das Bundesjugendministerium, den Jungdemokraten die Mittel kürzen zu müssen – dies wurde natürlich öffentlich. Daraufhin bekam der Bundesvorstand einen Brief des NRW-Innenministers Herbert Schnoor, mit einem Scheck über 100 DM und der Erklärung, trotz unterschiedlicher Meinung in der Sache sei er gegen Zensurversuche und wünsche im übrigen, seine Partei hätte eine ähnlich kritische Jugendorganisation wie die “Judos”. Schnoor hatte verstanden, dass es um Zivilcourage ging.  Autor Seitz blieb von dieser Erkenntnis unbe(f)leckt.

Lernziel Solidarität

Im Januar 1988 stellte sich heraus, dass bundesweit hunderte von Volkszählungsgegner*inn*en in einer Terroristendatei der Sicherheitsbehörden registriert worden waren. So hatte sich das Misstrauen vieler Kritiker gegenüber dem Staat im Nachhinein selbst bestätigt. Die meisten Strafverfahren gegen Volkszählungsgegner*inn*en wurden – wie auch meines – in den Folgejahren von Gerichten aufgehoben oder in milde Bußgelder umgewandelt. Wo dies nicht der Fall war, wurde auch mit Solidaritätsspenden geholfen.  So lobte eine bayerische Initiative, die letzten 100 DM, die in ihrer Kasse verblieben waren, in der “TAZ” als Spende für von Buss- und Zwangsgeldern gebeutelte Menschen aus.

Was blieb von VoBo? 

Geblieben sind kritische Organisationen wie etwa “Digitalcourage”, die jährlich den Big Brother Award verleihen – inzwischen vorzugsweise an private Datenkraken, von denen heute die größte Gefahr für die Bürgerrechte und für die Presse- und Meinungsfreiheit ausgehen. Smartphones, (a)soziale Netzwerke und allgegenwärtige Ausspähung von Konsument*inn*en im Netz sind heute die gravierenden Gefahren für die Privatheit.

Diese These vertritt der DLF-Beitrag zwar letztlich auch, aber das rettet ihn insgesamt nicht. Insofern ist die Reportage von Norbert Seitz eine Art von Falschdarstellung und Verdrehung der Umstände, die ihresgleichen sucht. Ich habe selten im Deutschlandfunk einen derart schlampig recherchierten Beitrag gehört.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Heiner Jüttner

    Leider fehlen in der Unterstützungsliste die Liberalen Demokraten, die meines Wissens sogar einen eigenen Antrag gegen die Volkszählung beim Bundesverfassungsgericht eingebracht hatten.

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