Und: Usbekistan / Brasilien / System Weinstein / Russische Dekadenzklasse

Die Bundeskanzlerin war froh, als sie sie endlich los war. Nicht nur eine potenzielle Rivalin, sondern auch eine beständige überehrgeizige Nervensäge mit politischer Sprengkraft. So gesehen hat Merkel, wie so oft, alles, auch die Uschi, rechtzeitig geschafft. Als Bundesaufrüstungsministerin war sie schon nah am Sturz. Es ging um Haushaltsvolumina für Bundeswehrbeschaffungen, die auf die gesamte Regierung hätten Schaden werfen können. Bei der EU-Beschaffung von Impfstoffen in der Corona-Pandemie scheint sich ein ganz ähnliches Szenario abgespielt zu haben. Vielleicht hat sich daraus in der Ampelregierung eine Allergie entwickelt, die EU mit der Sicherung von Energie-Rohstoffen zu betrauen. Wenn ihr nicht zu trauen ist, ist sie eben keine gute Adresse. Und in deutschen Regierungskreisen weiss mann vieleicht zu gut Bescheid, wie das in Brüssel zugeht.

Nun soll also mit Laura Codruța Kövesi ausgerechnet eine rumänische Staatsanwältin die Bossin der EU-Kommission zu Fall bringen können? Das wäre eine späte historische Ironie, zu der ich dem früheren EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen nachträglich gratulieren müsste.

Warum könnte – die prinzipiell nicht doof sein könnende – Frau von der Leyen zweimal den gleichen selbstgefährdenden Fehler gemacht haben? Macht ihr Über-Ehrgeiz sie unberatbar für warnende Stimmen? Ich glaube, wir sehen hier einen Sozialisationsdefekt der herrschenden Oberklassen. Aufsteigerkinder haben Paranoia davor, wieder dorthin zurück zu müssen, wo sie herkommen. Oberschichtskinder dagegen halten sich für unverwundbar. Sie machen sich ihre Regeln und Vorschriften selbst, auch und gerade wenn sie ihre Chef-Eltern “streng” erzogen haben. Die habens ja auch so gemacht. Und der “Erfolg” gab ihnen recht.

Russische Dekadenzklasse

In der FAZ-Paywall steht heute eine Geschichte von Friedrich Schmidt über Xenija Sobtschak, die angeblich mit israelischem Pass “gerade rechtzeitig” vor dem Putin-Regime geflohen sei. Schmidts Story entfaltet dabei ein Panorama von Intrigen, die scheinbar zum Alltag der Moskauer und Petersburger Schickeria gehören, und mit denen sich diese global vernetzten und hochgebildeten Menschen Tag und Nacht beschäftigen.

Meine These: dass Wladimir Putin diese Banden ehrlich hasst, macht den Hauptteil seiner Popularität in Russland aus. Ab und zu mal ein Schauprozess könnte so manchen Angriffskrieg ersetzen. Alternativen oder Nachfolger*innen können in diesen Kreisen nicht wachsen. Eher Uschis.

Weinsteins System

Das Gegenstück ist der Aufsteiger Harvey Weinstein. der mischte das Hollywood-System mal so richtig auf, dass es sich gezwungen sah, den Kerl zu inkorporieren. Das ist leider besser gelungen, als es für eine grosse Zahl junger Frauen gesund war.

Viele mussten mitmachen, damit dieses Terrorregime funktionieren konnte. Ein grosser Fortschritt, dass zumindest dieses zusammenkrachte, und bis heute ermittlungstechnisch, juristisch und publizistisch aufgearbeitet wird.

Noch ein Tipp zu Psychopathen: die FAZ hat ein Interview mit einem Professor Schwarzinger digital eingemauert: “So erkennt man Psychopathen”. Sie sind überall. Auch in Ihrer Nähe. Wenn Sie das lesen wollen, melden Sie sich bei mir.

System Usbekistan

Ich gestehe, dass ich fast nichts weiss über dieses Land. Ein afghanischer Warlord, besonders brutal und grausam, nicht islamistisch, war usbekischer Herkunft. Den Verbrecher habe ich mir gemerkt.

Ist es nun Produkt usbekischer PR-Strategie, was Nicolas Butylin und mit Tomasz Kurianowicz der Chefredakteur der Berliner Zeitung persönlich schreiben? Annalena Baerbock in Usbekistan: Was ist der Preis für werteorientierte Außenpolitik? – Die Außenministerin besucht am Dienstag Usbekistan. Ein Land, das sich reformiert. Und mit den Taliban spricht. Was wird Baerbock sagen? Ein Vorortbericht aus Taschkent.”

Lesenswert ist ihre Story allemal, weil sie das Spannungsfeld zwischen “werte-” und interessengeleiteter Aussenpolitik ausleuchtet. Und dass Berliner Botschaften im Vorfeld von Staatsbesuchen PR betreiben, gehört zu ihren Aufgaben.

Brasilien – die Spannung steigt

Karin Knöbelspies hatte hier bereits Eindrücke aus dem Wahlkampf vermittelt. Wir dürfen die Öffentlichkeit dieses Landes nicht mit unserer verwechseln. Der Stellenwert politisierter Diskurse in der Bevölkerung ist noch viel geringer, als er bei uns schon ist, sicher auch noch geringer als im oben beschriebenen Russland. Die elementaren Sorgen (Ernährung, Gesundheit, Schulbildung, nicht von Polizei oder Drogenbanden erschossen werden) lasten die Mehrheit der Menschen aus. Es gibt keine Bemühungen, daran etwas zu ändern oder zu verbessern, schon gar nicht vom Staat. Von dem eher das Gegenteil.

Unter diesen Bedingungen muss es als Fortschritt gewertet werden, wenn es Sonntag gelingen sollte, einen faschistischen Präsidenten demokratisch wieder abzuwählen. Das wäre politisch ein grosser Schritt; materiell für die Brasilianer*innen wäre es dagegen zunächst nur ein sehr kleiner. Gut verdeutlicht wird das von der in Frankfurt lebenden Brasilianerin Paula Macedo Weiß, die in der FR schreibt: Dramatische Brasilien-Wahl: Bolsonaro – der Kandidat der Diktatur – Die Wahl in Brasilien ist ein historischer Moment für eine der größten liberalen Demokratien der Welt.”

Am Sonntag eine Entscheidung über diese Welt.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net