…und wieviel Liter Blut?

Seit Wochen rollt nun die ukrainische “Gegenoffensive” zur Rückeroberung von Gebieten, die der russische Aggressor besetzt hat. Trotz erheblicher Verstärkung der ukrainischen Kräfte durch westliche Waffen, darunter den modernsten Leopard 2 Modellen, die im Sommer und Herbst 2022 von den Rüstungslobbyisten, allen voran der Vertreterin des Rheinmetall-Wahlkreises Düsseldorf, Marie-Agnes Strack-Zimmermann MdB (FDP) als wahre “Wunderwaffen” gefordert und gepriesen wurden. In Wirklichkeit haben die Waffenlieferungen von vornherein keine Wunder vollbringen können – außer beim jahrelang vor sich in dümpelnden Börsenkurs von Rheinmetall.

Denn die deutschen und die NATO-Waffensysteme bauen aufeinander auf, Leoparden für den direkten Angriff im Gefechtsfeld, Haubitzen 2000 fürs vorbereitende und begleitende Fernfeuer, Geparden für die Luftabwehr und Schützenpanzer Marder für den gezielten Infanterieeinsatz. sowie Tiger-Kampfhubschrauber zur Unterstützung der Bodentruppen, bilden ein Gesamtpaket der Kampfkraft, bei der in Deutschland dann noch der Eurofighter hinzu käme. Da die ukrainische Armee nur Einzelkomponenten dieser Systeme geliefert bekam, ergeben sich zwangsweise Lücken, wie sie etwa eine jahrelang gut trainierte Bundeswehr nicht entwickeln würde. Auch US-Abrams-Panzer und britische Schützenpanzer bilden keine Einheit. Dieses Beispiele zeigen, dass Waffensysteme von Zusammenspielen und Strategien abhängen, von denen in der Ukraine mangels integrierter Systeme, Ausbildung und Bewaffnung nicht die Rede sein kann. Aber es wäre auch eine Überforderung der ukrainischen Armee, von ihr derartige Leistungen zu erwarten. Insofern ist der vom Westen gepflegte und geschürte Optimismus in die schnelle Rückeroberung russisch okkupierter Gebiete eine potemkinsche Fiktion.

Die Realität des Grabenkrieges 1918, 2014, und 2023

Ihr gegenüber steht derselbe verbissene Stellungs- und Grabenkrieg, der schon seit der Besetzung des Donbas seit 2014 für die Ostukraine gilt und nun auch für die Umgebung von Bachmut wie für viele andere umkämpfte Orte steht. Er gleicht den Grabenkriegen des 1. Weltkriegs von 1918. Was die stv. Verteidigungsministerin am Wochenende an Geländegewinnen verkündete, entspricht etwa einem Viertel des Gebiets der Stadt Augsburg. Die Ukraine – wäre sie in der EU – das mit Abstand größte Flächenenland. Wie viele tote, verletzte und für immer verkrüppelte Soldatinnen und Soldaten auf beiden Seiten diesen “Geländegewinnen” gegenüber stehen, ist nicht bekannt.  Obwohl die ukrainischen Kämpfer*innen hoch motiviert sind und manche Russen an ihrem Auftrag zweifeln, gibt es keine entscheidenden Veränderungen. Russland hat mit Wagner-Terroristen, aber auch mit eigenen Truppen tausende von Häftlingen, dazu Underdogs, Hasardeure, Unterprivilegierte und Verzweifelte aus den armen, Moskau fernen Provinzen als Kanonenfutter für die “Vaterländische Armee” angeworben. Ihr Blutzoll ist höher, fällt aber zahlenmäßig weitaus unwesentlicher ins Gewicht, gemessen am gesamten russischen Gemeinwesen, als die Zahl der Verluste an Menschenleben in der Ukraine. Die Grausamkeit dieses Vergleiches unterstreicht nur noch  die Unmenschlichkeit des Krieges.

Rekrutierungen schwächen die eigene Kampfkraft

Nun ist seit dem Wochenende die Rede davon, dass die Ukraine neue Rekruten ausheben, die Freistellung von vielen Kräften überprüfen, und so neue Soldat*innen rekrutieren wolle. Sie werden zwangsläufig nur mangelhaft ausgebildet sein und mit der Reduzierung der Personen, die “unabkömmlich ” sind, verzichtet das Land zwangsläufig auf  ein weiteres Stück Versorgung, auf einen noch funktionierenden Nachschub. Kräfte, die nach Bombenangriffen vor allem technische Hilfe leisten, Strom- und Wasserversorgung wiederherstellen, die Kommunikationskanäle wiederherstellen und das Funktionieren der Zivilgesellschaft sichern, werden geschwächt. Ganz zu schweigen von Polizei, Feuerwehr und medizinischen Hilfskräften.

Woran Napoleon, Hitler scheiterten

Die Aggressoren  – Russlands Truppen – dagegen scheinen solche Probleme trotz Wagner-Söldner-Abzug und bekanntermaßen mangelndem Enthusiasmus gegenüber der  Sinnhaftigkeit der “Spezialoperation” nicht zu haben. Allein die Demografie und Vernetzung der autoritären Verbrecher – Tschetschenenführer Kadyrov marschierte nach Putins Hilferuf aus Moskau sofort hinter Prigoschin hinterher, dessen Ziel ja nicht Moskau, der Kreml und Putin, sondern das HQ der russischen Truppen war – zeigt eindeutige zahlenmäßige Vorteile bei Russlands Truppen und denen seiner Trabantenstaaten. Belarus’ Autokrat und zugleich Putins Vasall Lukaschenko sprang ihm bei der Entsorgung des unliebsamen und zu mächtig gewordenen Paladins Prigoschin zur Seite  – nicht allein zur Stärkung der eigenen Machtposition, sondern im Interesse eines millimeterweiten Abrückens vom übermächtigen Nachbarn. Hinter dem er sich seit der manipulierten Wahl 2020 verstecken musste, um zu überleben. Trotzdem ist Putin natürlich nicht unantastbar und unangefochten, aber die Euphorie, mit der die Ukraine ihre Gegenangriffe gegenüber Russland ankündigte, erinnert doch an eine Form von Autosuggestion oder Pfeifen im Walde. Langsam und schleichend wird deshalb die Erkenntnis dämmern, dass die Ressourcen der Ukraine trotz Unterstützung von EU und NATO-Staaten endlich sind.

1812 – 1941 – 2023 – Fortsetzung katastrophaler Fehleinschätzungen?

Nein, es geht nicht um einen Vergleich mit den Angriffen auf Russland – es geht um die Frage, wie vor dem Hintergrund der russischen Ressourcen und Möglichkeiten der Verteidigungskrieg der Ukraine vom Westen unterstützt wird. Trotz bemerkenswerter Erfolge der ukrainischen Armee seit dem völkerrechtswidrigen Überfall der Russen ist doch augenscheinlich, dass die Ukraine trotz “Wunderwaffen” aus dem Westen am kürzeren Hebel sitzt, je länger dieser Krieg dauert.  Wie kann, so muss doch die Frage lauten, der Westen auch nur die Möglichkeit eines jahrelangen Abnutzungskrieges der Ukraine erwägen, angesichts des Ungleichgewichts der Ressourcen, angesichts der Tatsache, dass in kaum zwei Jahren ein Kumpan Putins namens Trump in den USA wieder gewählt werden könnte, und die gesamte westliche Allianz auf Seiten der Ukraine mit einer Halbwertszeit von wenigen Monaten zerfallen könnte. Wie können also Außenpolitiker*innen, kann die NATO, vor diesem Hintergrund weiter auf einen langen Abnutzungskrieg setzen und die Ukraine darin bestärken? Natürlich kann niemand der Ukraine Vorschriften machen, wie sie entscheiden soll – Aber wer trägt für die Opfer die Verantwortung?

Niemand hat vor, (aber es kann sinnvoll sein) eine Mauer zu bauen

Wie kann ein Krieg wie der in der Ukraine, der sich immer mehr dem Stellungskrieg der deutsch-französischen Front im ersten Weltkrieg nähert, überhaupt angehalten werden? Ich habe hier bereits einmal die Möglichkeit einer Einfrierung des Konflikts durch einen Mauerbau erwähnt. Wenn es stimmt, dass Putin nicht verhandeln will, dann kann ihn vielleicht ein Mauerbau beeindrucken – geteiltes Deutschland, geteilte  Ukraine, das hat schon einmal etwa 50 Jahre kalten Krieg, aber verhältnismäßig wenige Opfer an der Mauer bewirkt. Die Bundesrepublik wurde damals Mitglied der NATO. Solange die Ukraine Krieg führt, ist das nicht möglich – aber vielleicht  nach einem Waffenstillstand und einem Mauerbau. Aber das ist ja nur ein Gedankenspiel angesichts von 37 Quadratkilometern und unermesslich vielen Litern Blut. Vor allem anderen muss wieder und mehr verhandelt werden. Das sollte die EU nicht Erdogan überlassen. Und sie sollte sich gegen die mörderische Schande von Streumunition in aller Klarheit positionieren. Davon ist zu wenig sichtbar.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net