9. 11. 2023, Deutschland, Israel, Palästina und der ganze Rest der Welt

Diesen Beitrag schrieb ich für den 9. November. Ich wollte an einen jüdischen Tango (in polnischer Sprache) erinnern: „Ostatnia niedziela“. (Es ist unser letzter Sonntag). Ich hoffe, Sie hören ihm auch noch am 11. November zu.

„Es ist unser letzter Sonntag“ ist eine schwermütige Weise, die vom letzten Treffen einstiger Liebender berichtet. Es war im damaligen Polen der Zwischenkriegszeit populär. Dort hatte das Werk wegen der düsteren Stimmung den Beinamen „Selbstmord-Tango“ erhalten, weil es offenbar auch bei Selbstmördern in Polen beliebt war. Aber das Lied griff auch auf die Sowjetunion über. Das führte dazu, dass es 1937 einen neuen russischen Text bekam. Laut Wikipedia glauben heute viele Russen, es wäre „ihr“ Lied. Zudem soll es sogar eine ukrainische Textfassung geben.

Der damals neu geschriebene russische Text unterschied sich vom originalen Text (in polnisch) in der Begründung des Liebeszerwürfnisses. Im russischen Text klingen keine suizidalen Gedanken an, die nunmehr entzweiten Liebenden übernehmen gleichermaßen Verantwortung.

Der russische Lied-Text gab 1994 dem Film „Die Sonne, die uns täuscht“ seinen Titel, aber beim genauen Hinsehen durchzieht das polnische Original die Geschichte im Michalkow-Film, die davon erzählt, wie der einsetzende Stalinterror über eine Familie hereinbricht, aber auch rücksichtslos jeden niederstampft, der als Zeuge in die Quere kommt. Stalins Handlanger richtet sich schließlich selbst, nur da waren die anderen längst ins Unglück gestoßen. Der Film erhielt einen Auslands-Oscar. Sein Schöpfer, Michalkow, steht heute auf der Sanktionsliste und gilt als pro-Putin.

Auch der sowjetische Animationsfilm von 1978 „The Tale of the Tales“ (Das Märchen der Märchen), der in diesem Bereich als meisterlich gilt, verwendete unter anderem besagtes musikalische Motiv. Es ist zutiefst bewegend, wie Norstein mit seinen Mitteln die Fragilität menschlicher Beziehungen unter Kriegsbedingungen in Szene setzte. Zunächst tanzen Paare, aber dann stehen mehr und mehr Frauen mit leeren Armen da. Auf immer. Die Filme „Schindlers Liste“ und „Drei Farben: Weiß“ bedienten sich ebenfalls dieser unvergesslichen Melodie.

Das Lied hat jüdische Eltern

Sie soll auch zu den Stücken gehört haben, die das Häftlingsorchester im Vernichtungslager Treblinka spielen musste, unter anderem, um das Schreien der Menschen in den Gaskammern zu übertönen, bzw. um den umliegenden Dörfern vorzutäuschen, dass in Treblinka das Leben regierte, und nicht der Tod. Heute weiß kaum einer mehr, dass dieses Lied jüdische Eltern hat: Petersburski und Friedwald.

Beide überlebten die Nazi-Zeit. Petersburski kämpfte erst in der polnischen Armee, ging dann in die Sowjetunion und kämpfte im Anders-Bataillion (polnische Freiwillige unter sowjetischem Oberkommando). Er kehrte 1967 nach Polen zurück. Friedwald wurde rechtzeitig evakuiert. Nach etlichen Umwegen siedelte er sich schließlich in Israel an, wo er bis zu seinem Tod hochanerkannt lebte.

Wie es die Geschichte wollte, gehört ihr Kind, der Tango „Ostatnia niedziela“, nunmehr der ganzen Welt, nur wer es in die Wiege legte, ist verschüttet.

An all das dachte ich, als ich mich der vielen Opfer erinnerte, damals, aber auch all jener in den vielen Jahren danach, bis heute. Nie wieder sollte es so werden. Nie wieder. Für alle. Es ist kein Schwur, der nur für eine Ethnie oder nur für Europa reserviert ist. Es war und bleibt der Versuch, Frieden zu schaffen.

Lebt Ihr noch, fragt eine Amerikanerin, die Krankenschwester Emily Callahan, die für „Ärzte ohne Grenzen“ in Gaza arbeitete, zweimal am Tag ihre einstigen Kolleginnen und Kollegen. Sie entkam. Die anderen blieben. Emiliy sagte CNN, wenn sie nur eine Unze des Herzens hätte, das alle die haben (die noch dort sind), würde sie als glücklicher Mensch sterben.

Warum verstehen wir „Nie wieder“ immer noch nicht?

Was nützen 4 Stunden Waffenruhe? Was bedeutet es, wenn die deutsche Außenministerin davon redet, dass es „keine Lösung über die Köpfe der Palästinenserinnen und Palästinenser hinweg geben” (kann), und es „bestmöglich einen internationalen Schutz” geben soll.

Wie denn?

Welchen „bestmöglichen Schutz“ hat irgendein Mensch, wenn alles zerbomt wird oder weißer Phosphor herabregnet? Sind 4 Stunden täglich das, was es braucht, um aus dem Schutt herausgebuddelt zu werden? Sind es die entscheidenden 4 Stunden, um noch einmal einen Schluck Wasser aus westlichen Hilfslieferungen trinken zu können? Denn darauf folgen 20 weitere Stunden. Stirbt ein Mensch humaner, wenn er weniger durstig ist?

Gegen das Unrecht des Terrors aufzustehen ist kein Freibrief, zu vergessen, dass „Nie wieder“ nie wieder heißt.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.