Obwohl in Beuel wieder klassisches Depressionswetter ist, startete ich in den Montag (!) wie auf Drogen. Das muss am gestrigen Fussball gelegen haben (+ einer sizilianischen Involtino, die in meinem Kühlschrank aufs heissmachen wartet): die zweitschlechteste Abwehr der ersten Liga leistete über zwei Halbzeiten engagierte und erfolgreiche Arbeit, 3:1 gegen einen VFB Stuttgart, der schon stärkere Gegner mit ansehnlichem Fussball an die Wand gespielt hat – Borussia-Fans wissen, was ich meine. Der von deutschen Medien ignorierte Africa-Cup bietet weitere Sensationen. Deutsches Fernsehen bietet lediglich schöne Stimmungsbilder von den ivorischen Strassen und Plätzen, sowie dürren Datenjournalismus.

Der dramatische deutschignorierte Africa-Cup

Während im europäischen Spitzenfussball wie üblich das Grosskapital den sportlichen Wettbewerb niederwalzt, an die Wand nagelt und Prämien zählt, gibt es auf anderen Kontinenten Menschen, Tore, Sensationen. Beim Africa-Cup starteten zwar die mitfvorisierten Ivorer als Veranstalter im Eröffnungsspiel mit einem erwarteten 2:0 gegen Guinea-Bissau, für dessen Unabhängigkeit noch Mitglieder meiner ehemaligen WG (1976-1998, Bergweg 21) mitgekämpft hatten. Die gestrigen drei Spiele endeten allesamt sensationell. Riese Nigeria nur 1:1 gegen Äquatorialguinea. Der vielfache Titelträger Ägypten 2:2 gegen das schwerkriegsbeschädigte Mosambik (s. Guinea-Bissau) am Rande einer Niederlage, und der ständige Mitfavorit Ghana mit einer ebensolchen Sensationsniederlage 1:2 gegen den Miniinselstaat Kap Verde, das nicht nur wegen seiner Musik immer wieder weltweite Aufmerksamkeit erkämpft. Fussballerisch die Färöer Afrikas, nur viel erfolgreicher.

Die Fussballwelt da draussen beobachtet das voller Faszination, die Menschen in Afrika sowieso. Nur das sich selbst als EU-Führungsmacht verstehende Deutschland nicht. Darum entpuppt sich der folgende Text als intellektuelle Herausforderung:

Wolfram Adolphi/telepolis: Hybris der Konfrontation: Warum Deutschlands Anti-China-Politik eine Sackgasse ist – Die deutsche Regierung setzt auf Blockbildung. Das ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Warum man auf das schauen sollte, was China will.”

Die Vermeidung von China-Kritik durch den Autor liegt mir fern. Ich fasse erneut zusammen: unter einem solchen Regime könnte und will ich nicht leben. Das konzedierend sind seine Überlegungen schwer zu widerlegen. Arm erscheint mir eher die Politik der Telepolis-Chefredaktion. Warum so verschämt, was die Biografie des Autors betrifft? Findet doch sowieso jeder raus. Was der für die Stasi alles ausgefressen haben mag, macht nicht alles falsch, was er weiss. Im Gegenteil. In meinen Augen ein seriöserer Zeuge, als Westdeutsche, die in ihrer Jugend vorgaben für einen “Sieg im Volkskrieg” zu agitieren, und heute nur das “Volks-” gestrichen haben.

Lange Linien

An Adolphis Betrachtung sind die langen Linien das Aufschlussreiche. Ich erinnere mich an meine einzige Lenin-Lektüre, die ich vollständig gelesen habe. Was der 1920 schon wusste, hätten westdeutsche Radikale 50 Jahre später auch wissen können – wenn sie gelesen hätten. Aber die – ein späterer deutscher Aussenminister inklusive – dürstete es nach – angeblich – indianerähnlichem Strassenkampf (nicht nur ohne “Volk”, Pferde nur auf der polizeilichen Gegenseite).

Weit klarer werden die Weltverhältnisse – wer hätte das gedacht? – vor dem Internationalen Strafgerichtshof, vor dem Südafrika Israel anklagt. Die Bundesregierung setzt sich zu Israels rechtsradikaler Regierung auf die Anklagebank. Bedeutet das nun, dass das sich verteidigende Israel den Gerichtshof anerkennt? Ich bin kein Jurist, und nehme das als spannende Frage. Das von Deutschland terrorisierte Namibia schloss sich Südafrikas Klage an. Ich habe mich für die Befreiung Südafrikas von der Apartheid und Namibias (sowie Angolas, Mosambiks, Guinea-Bissaus) vom Kolonialismus mitengagiert. Es war der lernintensivste Abschnitt meines Lebens. Zu bereuen habe ich an ihm nichts – im Gegenteil, es gibt mir bis heute mentalen Rückenwind.

Die Verschiebung aktueller geopolitischer Relevanzen zeigt mal wieder kaum etwas deutlicher, als die Fussballökonomie. Darüber können sich wohl nur noch saturierte denkfaule Mitteleuropäer*innen wundern.

Und nun zur Genuss-Seite

Unmittelbar vor dem Verzehr meiner Involtino nun zu Erfreulichem. Zunächst die titelgebende Rubrik von WDR-Cosmo: wussten Sie, dass Sie mit dem Tannenbaum-Biomüll Fische schützen können? In Schweden wissen sie davon. Klimapolitisch weit gewichtiger als diese Cosmo-Meldung ist freilich diese wie so oft von Wolfgang Pomrehn/telepolis überbrachte Nachricht, die so gar nicht ins Gut-und-Böse-Weltbild unserer Bundesregierung passt: Chinas Solarexplosion: Wie das Land den Westen bei Erneuerbaren abhängt – Die Volksrepublik führt den weltweiten Ausbau der Solarenergie mit großem Abstand an. Auch bei der Windenergie gibt es einen Sprung nach vorn. Die Steigerung ist erstaunlich.”

Zwei Geniessertypen haben es in einen behaglichen Lebensherbst geschafft. Mit Jürgen Kehrer verbrachte ich in den 90ern einen behaglichen Toskana-Urlaub in einer kleinen Gruppe, die der hier interviewte Andrea Arcais organisiert hatte. Kehrer hatte damals schon “Wilsberg” erfunden, und damit ausgesorgt.

Ebenso der heutige und besonders langjährige Hauptdarsteller der ZDF-Verfilmungen Leonard Lansink, geboren in der gleichen Stadt wie ich. Aus seinem Heimatstadtteil Rotthausen kamen zwei Leute aus meiner Schulklasse in Gladbeck. Zwei Typen, deren Erfolg vielen übertrieben vorkommen mag. Sie gewannen den TV-Abend mit 6,5:4,6 Mio. gegen den unerträglichen Silbereisen. Ihnen neide ich das nicht. “Wilsberg” ist samstags die Münster-Ausgabe für das ZDF, was montags auf ZDFneo die endlosen talkshowkillenden “Barnaby”-Wiederholungen sind: unbeschwerte Gemütlichkeit fürs Sofa.

Was all die erwähnten altwerdenden NRWler in Berlin suchen, ist mir – abgesehen von der grösseren Vielfalt der Restaurants – bis heute verschlossen geblieben. Es muss an Westfalen liegen …

Bevor ich also zu meiner Involtino alla siciliana schreite, am Tisch, nicht auf dem Sofa, bedenken Sie diese Erkenntnisse von Alexandros Merkouris/Arte: Die Mittelmeerküche – Rezept für ein langes Leben? – Es ist kein Geheimnis: Die Ernährung wirkt sich wesentlich auf den menschlichen Körper aus. Als besonders gesund gilt die Mittelmeerküche, die hauptsächlich auf pflanzlichen Nahrungsmitteln wie Gemüse, Getreide, Nüssen, Hülsenfrüchten und Obst basiert und nur wenige tierische Produkte enthält. Wie beeinflusst eine vegetarische Ernährungsweise unsere Körperfunktionen?” Olivenöl wird das neue “Diamanten”.

Update nachmittags

Afrikas Reissäcke und Deutschlands missratener Kampf gegen Rechts

Hier nur Indizien, keine Welterklärung.

Ein afrikanischer Staat, so gross wie 520 Saarlande, und mit einer Bevölkerungszahl wie NRW – in ihm hat es fundamentale politische Umwälzungen gegeben, über die Bernhard Schmid/Jungle World berichtet: Kompromiss oder Kompromittierung – Die Militärjunta im Tschad hat den profilierten Oppositionellen Succès Masra zum Premierminister ernannt. Viele seiner Parteigänger sind skeptisch.” Ob Monsieur Masra nun eingekauft wurde oder nicht – dazu kann ich mangels Sachkenntnis keine Meinung haben. Ein Vorteil, auch für Oppositionelle, sollte es jedenfalls sein, wenn es keine Toten gibt. In Deutschlands Medien ist, von der verlinkten Ausnahme abgesehen, der Vorgang weniger Erwähnung wert als ein chinesischer Reissack. In Frankreich ist es so schlimm noch nicht, weswegen Kollege Schmid berichten kann. Danke!

Klaus Raab/MDR-Altpapier berichtet über die Medienresonanz zu dem von Correctiv veröffentlichten rechtsradikalen Gipfeltreffen. Er bohrt uns kleine Gucklöcher in die digitalen Mauern kommerzieller deutscher “Massen-“Medien. So kann das mit der Bekämpfung der Rechten nie was werden, wenn Argumente nur den Besserverdienenden zugänglich sind. Es gibt technische Mittel dagegen. Mann*frau muss nur Leute kennen, die wissen, wo es die gibt. So wie nach ’45 die Schokolade, die Zigaretten und die Kohle. So werden Schwarzmärkte geschaffen. Drogendealer lieben sie.

Der spanische rote Curiós zur sizilianischen Involtino – ich finde, das passt. Frag’ mich keine*r, wo ich den herhabe – schönes Geschenk.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net