Angeblich trifft sich in diesen Tagen in Davos nicht nur wieder die Crème de la Crème kapitalistischer Gierschlünde und ihrer Hofnarren, sondern auch der ukrainische Präsident Selenskyj wird als möglicher Gast vermutet. Aus Sicherheitsgründen natürlich zu einem nicht benannten Termin vermutlich am Dienstag. Er soll ein Verhandlungspapier entworfen haben und will seine Punkte beschließen oder unterstützen lassen.

Die “Verhandlungsposition” der Ukraine soll u.a. im ersten Punkt die Vorbedingung des russischen Abszugs sämtlicher Truppen aus der Ukraine einschließlich der Krim beinhalten. Dann Reparationen an die Ukraine und Wiedergutmachungszahlungen Russlands für die zerstörte Infrastruktur. Menschlich verständlich fragt sich aber der einigermaßen neutrale Betrachter, was das für Verhandlungen sein sollen, bei denen die Gegner sich praktisch zur Kapitulation aus freien Stücken gegenseitig auffordern. Putin hat in seinen Botschaften zum orthodoxen Weihnachtsfest seine Forderungen von Kriegsbeginn wiederholt. Die Urkraine müsse von der Herrschaften von Faschisten und deren Unrechtsregime, hinter dem die NATO stehe, befreit werden. Der ist nicht einen Deut realistischer.

In ideologische Schützengräben eingegraben

Eine Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik nannte dies in den letzten Tagen auf “Phoenix” eine “Strategie, die dazu diene, sich in seinen jeweiligen Lagern zu verankern”. Also Diplomatie im Eigeninteresse, nicht um zu vermitteln. Das wiederum bedeutet, dass beide Seiten weiter auf einen Ermüdungkrieg setzen. Wie aussichtsreich aber kann diese Strategie sein? Zahlen der “Tagesschau” behaupten, dass zu Beginn des Krieges Russlands etwa 180.000 Russen das Land überfallen haben. Jetzt sollen sich nach Schätzungen der ukrainischen Armee 420.000 russische Soldaten in der Ukraine befinden. Die Ukraine hat derzeit einen dramatischen Mangel an Munition und an teuren “Patriot”-Flugabwehrbatterien. Die können nur die USA, nicht einmal mehr Deutschland liefern. Russland ist nicht besser dran und kann aber auf die irrsinnigen Munitionsvorräte Nordkoreas zurückgreifen.

Von den modernen Leopard 2A6 aus Deutschland und den Niederlanden ist die Mehrzahl derzeit fahruntüchtig und kann nicht repariert werden. Die erste Ausbildung von F 16-Piloten in Rumänien dürfte gerade einmal begonnen haben. Und von den Haubitzen 2000, die nach 100-150 Schuß ihre Kanone überholen lassen müssen, haben wir schon lange nichts mehr gehört. Beim “Taurus” ist es zwar eindeutig, dass die GPS-Zieldaten in Deutschland programmiert werden müssen, aber das hält die FDP und Grünen Schlachtschiffe  Flak-Zimmermann und Hofreiter nicht davon ab, weiter ihren Einsatz zu fordern.

Die ökonomische Dimension des Krieges wird außer acht gelassen

Zum kapitalistischen Jahrestreffen in Davos könnte ja der eine oder andere die Hoffnung haben, dass – außer Waffenprofiten für Rheinmetall oder neuerdings für Airbus Industries für die Lieferung von Eurofightern nach Saudi-Arabien – es lebe die grün-feministische Außenpolitik – auch mal über die ökonomische Schieflage dieses Krieges und der in Nahost gesprochen oder zumindest nachgedacht wird. So kosten die 12-16 Raketen, die ein Patriot-System abschießt, pro Stück je nach Typ 0,8 – 2 Mio. oder 0,9-3 Mio Dollar – $ 400 Mio. kostet das System ohne Munition. Wenn nun Nacht für Nacht Schrottraketen russischer Bauart und iranische Billigdrohnen, deren Einzelwert bei etwa 50.000 Dollar oder weniger liegen dürfte, abgeschossen werden müssen, wird klar, dass hier auch ein ökonomisch-technisch asymmetricher Krieg geführt wird, in dem primitive Systeme wie die iranischen Drohnen langfristig die Nase vorn haben.

Die Huthis spielen das gleiche Spiel

Noch drastischer steigen die Kosten der Kriegsführung, vergleicht man den Aufwand, den derzeit Kriegsschiffe der USA und Großbritanniens vor der Küste des Jemen betreiben, um deren vergleichbar primitive Angriffe mit Billigdrohnen und -Raketen auf Schiffe in internationalen Gewässern zu bekämpfen. Auch dort erfolgen die Angriffe mit Waffen, die bei weitem nicht in der Lage sind, den hochmodernen Präzisionswaffen und der Flugabwehr der westlichen Marine die Stirn zu bieten. Aber sie können diese Kräfte binden und damit Kosten verursachen, die sich auf Dauer nicht rechnen. Hinzu kommen die Haushaltswforderungen der Republikaner im US-Senat, die Obstruktionspolitik Orbans in der EU und mögliche Wahlausgänge in der EU und in den USA bei den Wahlen zum EP und der Präsidentschaftswahl – Trump ante Portas.

Putin spielt schon wieder Schach

Putin kauft seine Billigdrohnen im Iran und kuschelt mit dem Mullah-Regime. Es ist nicht bekannt, aber wahrscheinlich, dass er seine Politik mit dem Mullah- Regime abstimmt. Während die westliche Welt befürchtete, dem Massaker der Hamas könnte ein Angriff der Hisbollah auf Israel folgen, folgten die Angriffe auf interationale Frachtschiffe, die derzeit die westlichen Unterstützer Israels beschäftigen. Was, wenn es sich dabei nur um ein Ablenkungsmanöver vor einer weiteren Eskalation handelt? Um ein Vorspiel, das dem Iran erlaubt, nach Gutdünken im Nahen Osten einen Flächenbrand zu entfachen, der die Kräfte der USA bindet, das Engagement des Westens zugunsten der Ukraine spaltet und schwächt. Fanatisierte arabische Massen werden dabei als Opfer, Kanonenfutter und Märtyrer missbraucht. Und Hass und Extremismus sowie Antisemitismus  geschürt und vertieft. Auch in unserer Gesellschaft mit allen innenpolitischen Folgen.

Watt lernt uns datt?

Würde der Rheinländer in der Kneipe am Tresen sagen, wenn wir das beim Kölsch mit ihm diskutieren. Und er würde vermutlich den Schluss ziehen, dass der Krieg in der Ukraine teuer werden könnte, und dass ein Verhandeln zu früherem Zeitpunkt bessere Chancen haben könnte, als EU- und US-Wahl abzuwarten und ggf. Desaster zu erleben. Auf jeden Fall ist damit zu rechnen, dass sein Urteil realistischer ausfiele, als das der versammelten Wirtschaftslenker und Geostrategen sowie ihrer Paladine, Einflüsterer und Lautsprecher. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Was sich die Märchenonkel in Davos erzählen, wird vor der Realität der Geschichte wahrscheinlich keinen Pfifferling wert sein. Das Gemetzel geht also weiter. Ist der Westen dabei, sich den Ast abzusägen, auf dem er sitzt?

Nachtrag 24.1.: Hoffnung nicht aufgeben!

Aber ich bin vielleicht zu pessimistisch: Wenn ein ukrainischer Präsident für Verhandlungen etwas anderes formulieren würde, als das, was Selenskij formuliert hat, wäre er wohl nicht mehr lange unkrainischer Präsident.  Aber wer Bedingungen für Verhandlungen formuliert, könnte damit – anders als Putin 2022, der nur offensichtlich unerfüllbare Bedingungen stellte  – gegenüber Dritten, die ihm wohlgesonnen sind und denen das Schicksal der Ukraine nicht gleichgültig sein kann, wie etwa Europa, wichtige Pflöcke der Bedingungen einschlagen, aber gleichwohl grundsätzlich  Verhandlungsbereitschaft signalisieren.   So gesehen ist es nun an Europa, Diplomatie in Gang zu setzen – wohl wissend, dass sich an der EU-Diplomatie auch das gegenseitige Vertrauen zwischen EU und Ukraine beweisen muss. Ein Ritt auf des Messers Schneide – aber wann und wo in der Diplomatie können die Beteiligten darauf verzichten?

Und warum erwähne ich die USA mit keinem Wort? Der Wahlkampf dort hat begonnen und egal. wie er ausgeht – Europa kann sich auf den “großen Bruder” nicht mehr verlassen. Ob greiser Biden oder faschistischer Trump. Werden wir erwachsen. Ohne die Achse Paris- Berlin wird in Zukunft nichts gehen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net