Gespräch mit Alex Mello über den Karneval in Rio und seine Karnevalsoper „Woy“

Die Kölner Akadademie der Künste der Welt machte im Herbst 2023 mit ihrem Projekt kah.na.v’aw – Spiritualität, Ökonomie und Politik von sich reden. Mit einer Ausstellung, mit Workshops, Talks und Filmabenden fand ein Austausch über die „sozio-politischen Erzählungen, kulturellen Ausdrucksformen und wirtschaftlichen Dynamiken“ im Karneval statt. Künstlerische Leitung hatten Adriana Schneider Alcure (Rio) und Alex Mello (Köln). Am 25. November kam es zum krönenden Höhepunkt des Projekts: Im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum inszenierte Alex Mello die Sambópera „Woy“. Mit Mello, der für Regie und Dramaturgie verantwortlich zeichnete, traf sich Britt Weyde Ende Dezember zum Gespräch.

Geboren ist er in der Baixada Fluminense. „Dieser Ort steht für Kriminalität und Armut. Aber auch für die Samba-Schulen“, erzählt Mello. Laut dem letzten Zensus von 2022 bezeichnen sich dort 69 Prozent als Schwarz beziehungsweise afrikanischstämmig. „Diese Region ist arm und stigmatisiert, aber gleichzeitig sehr reich, was die Kultur betrifft.“ Der Künstler Alex Mello lebt seit über zehn Jahren in Deutschland. „Mit Film und Theater schlage ich eine Brücke zwischen Brasilien und Deutschland. Ich passe mich der hiesigen Kultur an, ohne meine eigene Identität aufzugeben.“ Die Tradition eines Tanztheaters von Pina Bausch oder der Expressionismus eines Joseph Beuys sind Referenzen für Alex Mello. „In Deutschland lebe ich meinen Traum. Ich fühle mich ganz wohl hier, bin Teil dieser Gesellschaft.“

Warum kam Alex Mello auf die Idee, ein knapp 200 Jahre altes Dramenfragment zu adaptieren?

„Als ich nach Deutschland kam, war mir klar, dass ich als Schwarzer Schauspieler wohl kaum Klassiker auf der Bühne spielen werde. Das Stück Woyzeck faszinierte mich schon immer: Darin steht zum ersten Mal eine Person vom Rand der Gesellschaft im Mittelpunkt, mit all ihren Konflikten: Woyzeck hat kaum Geld, kann schlecht mit seinen Gefühlen umgehen, kämpft darum, wahrgenommen zu werden. Als mich die Akademie der Künste einlud, Regie zu führen, war ich Feuer und Flamme. Wer wäre Woyzeck heute?“

Die Karnevalsoper ist eine empowernde Wucht. Ein weiter Weg von Büchners erniedrigtem Woyzeck, der in seiner gekränkten Männlichkeit selbst gewalttätig wird und seine Geliebte umbringt. Welche Überlegungen steckten hinter „Woy“? „Woyzeck im Jahr 2023 ist eine trans Frau, ein trans Mann, eine Schwarze Person, Menschen, die mit ihren Konflikten nicht gesehen werden. Mein Woy bringt Marie nicht um, meine Woy-Figur ist selbst Marie. Sie stirbt in Brasilien, dem Land, in dem am meisten LGBTIQ gewaltsam sterben, und sie stirbt am Brandenburger Tor. Meine Woy-Marie stirbt, kommt aber in einem anderen Körper und einer anderen Geschichte zurück. Deshalb besteht mein Woy aus mehreren Personen.“ In den vier Akten von „Woy“ stellt sich jeweils eine Person mit ihrer Geschichte vor. „Woy zu sein bedeutet, ohne Angst auf der Straße zu sein, weil ich weiß, dass ich nicht allein bin. Zusammen werden wir zu einem Karnevalszug, zu einer Party und Demo.“

B1-Deutschkurs, Erbsensuppe und Feminizide

Im Vorfeld der Aufführung machte Alex Mello Workshops, um Laiendarsteller*innen einzubinden. „Mit den Workshops konnten wir interessierte Leute erreichen, um mit Methoden aus Theater, Tanz und Musik Geschichten zu erzählen. Ich fragte sie: ‚Was machst du gerne? Wie identifizierst du dich mit dieser Geschichte?‘ So arbeiteten Profitänzer*innen und -sänger*innen zusammen mit Lehrer*innen, Putzfrauen und einem Koch. Wir wollen zusammen eine Geschichte erzählen. So läuft das auch in den Samba-Schulen. Da komme ich her. Dort wird jeder gefragt, was er am besten kann oder am liebsten machen würde. ,Ich kann gut kochen.‘ – ,Ok, dann koch, während wir proben. Du kannst aber auch mit uns tanzen oder singen.‘ Wichtig ist, dass wir zusammenkommen, unseren Rhythmus und unsere Stimme finden.“

Die Personen, die Woy verkörpern, waren vorab ausgewählt worden. Die brasilianische Tänzerin Taiana Lopes lebt seit über zehn Jahren in Deutschland. Sie steht für die alleinerziehende Mutter, womit der Bogen zur Marie im Woyzeck geschlagen wird. „In Taianas Monolog geht es auch um die Objektifizierung brasilianischer Frauen, etwa wenn sie Samba tanzen. Gleichzeitig sucht sie nach Vorbildern, zum Beispiel den Candaces, den afrikanischen Kriegergöttinnen, und sie erweist historischen Kämpferinnen die Ehre: Autorinnen wie May Ayim und bell hooks, der trans Aktivistin Marsha P. Johnson, der Opernsängerin Maura Moreira.“

Der Tänzer Thiago Rosa verkörpert den ersten Woy. „Thiago lebt seit zwei Jahren in Berlin und kämpft mit seinem B1-Deutschkurs, um hier bleiben zu können. Er möchte im Kulturbetrieb arbeiten, fragt sich, ob das klappt. Auf den Menschen, die neu nach Deutschland kommen, lastet ein enormer Druck: Thiago/Woy sagt, dass er nicht atmen kann, womit wir bei George Floyd wären, der wegen rassistischer Polizeigewalt sterben musste.“ Im zweiten Akt tritt der trans Mann Jota Ramos auf, der sich im September einer Mastektomie unterzog. „Die weiblichen Brüste zu entfernen war sein Traum. In Büchners Original macht Woyzeck Experimente mit Erbsen, wovon er Halluzinationen bekommt. Ein Arzt untersucht ihn.“ Dieser Arzt steht für Wissen. Und für die Macht des Mediziners. „Unser Woy zeigt seine OP-Narben, er hat Depressionen.“ Wie der Woyzeck im Original. „Er isst Erbsensuppe, die ihm Kraft gibt“, erzählt Alex Mello und lacht. „Dass Jota bei der Inszenierung seinen Oberkörper zeigt, war sehr mutig.“

Der dritte Woy ist die trans Frau und Tänzerin Black Pearl de Almeida Lima. Sie lebte in Köln, wo sie zusammengeschlagen wurde. Weil sie nach diesem homophoben Angriff keine Unterstützung bekam, ging sie nach Berlin. „Ich gab ihr den Text, den ich für sie geschrieben hatte. Sie sagte: ‚Das ist meine Geschichte. Auch wenn es mir schwer fällt, ich bin mit dabei.‘“ Black Pearl inszeniert eine Modenschau. Gleichzeitig verkörpert sie Marie, die am Ende gewaltsam stirbt, was auf Feminizide verweist, die auch in Deutschland mehr werden. „Sie stellt die ermordete Frau dar. Aber sie bleibt standhaft, mit Hilfe von anderen Frauen. Bei Büchner bringt Woyzeck Marie um und wird verrückt. Für mich ist die Gesellschaft verrückt, die Frauen, trans Menschen, Schwule und Lesben unterdrückt und täglich umbringt.“

Brasilianische Musik küsst deutsche Oper

90 Personen sind an dem Stück beteiligt, darunter Profimusiker*innen und -tänzer*innen sowie Gruppen, die in Köln brasilianische Kultur leben und pflegen: der Chor Vozes do Brasil, das Theater Lusotaque, die Band Maracatu Colônia. Mit allen Gruppen gab es separate Proben: „Drei Tage vor der Premiere trafen wir uns, um unsere Ergebnisse zusammenzuführen. Keiner wusste, was der andere macht – außer mir!“. Ganz schön viel Verantwortung! „Da ich aus der Tradition der Samba-Schulen komme, habe ich mich nicht verrückt gemacht. Wenn jemand in Rio nicht am Umzug teilnehmen kann oder krank wird, dann ist das OK. Daran bin ich gewöhnt.“

Was ist das Konzept der „Sambópera“? „Die ‚Sambópera‘ ist eine Plattform für Künstler*innen, Menschen und Kollektive, die eine Geschichte über Identität, Zugehörigkeit und Integration erzählen wollen. In ‚Woy‘ küsst die brasilianische Musik die Oper.“ Als musikalische Vorlage diente die Oper „Wozzeck“ von Alban Berg (1925 uraufgeführt). Teile daraus singt der Opernsänger Maurício Virgens. Hinzu kommen – eher unbekannte – Samba-Stücke.

Die „Sambópera Woy“ wurde nur ein Mal in Szene gesetzt. Gibt es Pläne für weitere Aufführungen?

„Unser Konzept war, das Stück nur ein Mal aufzuführen – wie im Karneval!“ Der echte Karneval ist ein temporärer Zustand. Erlebnisse und Begegnungen sind flüchtig. „Für alle Beteiligten war es eine Zeremonie. Das Publikum meldete zurück, dass sich die Leute wie auf einer Demo oder einer Riesenparty fühlten. Wir hatten brasilianische Rhythmen, Oper, Tanz, und vor allem: Geschichten, die normalerweise übergangen werden. Gerade drehen wir einen Film über die Entstehung der ‚Sambópera‘. Und es gibt die Idee, mit den Leuten aus den Workshops eine internationale Theatergruppe zu gründen.“

Wie steht Alex zum Karneval in Rio, heutzutage Tourismusspektakel und Riesengeschäft? „Karneval und Kampf sind Geschwister. Ich stamme aus einer armen Familie. In der Samba-Schule hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, als Person wahrgenommen zu werden und Teil einer Gruppe zu sein. In der Schule war es anders, da war ich der einzige Schwarze. Und der wird diskriminiert. In der Samba-Schule sah ich zum ersten Mal Schwarze, die nicht mit Kriminalität oder Armut in Verbindung gebracht wurden. Nein, sie waren Könige. Zum ersten Mal hörte ich eine Geschichte, in der ein Schwarzer keine Waffe in der Hand hat. Er hält ein Instrument und macht Musik. Er liegt nicht auf dem Boden, weil er erschossen wurde. Nein, er steht, tanzt und trägt eine Fahne. Das ist der Beitrag der Samba-Schulen in den Gegenden, wo wir mit Wut und Kriminalität aufwachsen. Wir hatten fast 400 Jahre Sklaverei in Brasilien, und es gab keine Wiedergutmachung. Meine Vorfahren sind in die Baixada Fluminense gekommen und haben Widerstand geleistet. Mit Trommeln, Tanz, Samba und Capoeira, kulturellen Ausdrucksformen, die immer verfolgt wurden.“

Heute ist der Karneval in Rio stark von der afrobrasilianischen Kultur geprägt, er hat die europäische Spielart längst abgelöst. Eigentlich ein Erfolg, oder? „Wir müssen aufpassen, dass die Identität nicht verloren geht. Der jetzige Karneval wurde von Schwarzen geschaffen und das soll auch so bleiben. Unser Beitrag droht unterzugehen. Die Samba-Schule lebt von den Leuten und der Gemeinschaft. Sie ist eine Schule für Identität und Selbstbewusstsein. Bei ihrer Gründung wird ihr ein Orixá (afrobrasilianische Gottheit aus dem Candomblé) zugeordnet. So etwas kann nicht kommerzialisiert werden. Dennoch befürchte ich, dass sich der Karneval in Rio von seinen Wurzeln entfernt.“

Fehlende Mittel und Evangelikale trocknen den Karneval aus

Was vermisst Alex am meisten vom Karneval in Rio? „In der Samba-Schule haben wir zusammen gekocht und gegessen. Alle sind wichtig: wer die Trommel spielt, singt, tanzt oder kocht. An diesem Ort sind alle willkommen. Ich vermisse das Gemeinsame.“ Wie feiert er Karneval in Deutschland? „In Köln und Bonn gehe ich zu den Umzügen. Zwei Mal bin ich mitgelaufen, auf Stelzen. Den Rosenmontagszug lasse ich mir nie entgehen. Er ist zwar anders, aber ich kann mich damit identifizieren. Ich gucke mir die Kostüme an und sauge die Stimmung auf.“ Karneval ist von den Machtverhältnissen vor Ort geprägt. Wer in der Politik mitmischen will, muss Mitglied in einem Karnevalsverein sein. Wie ist es in Rio? „Lokalpolitiker versuchen, die Samba-Schulen zu beeinflussen. Häufig sind sie im Vorstand. Seit einigen Jahren gibt aber der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, den Samba-Schulen kein Geld mehr. Er stecke es lieber in Kindergärten. Der Karneval wurde finanziell ausgetrocknet. So mancher Politiker hat sich abgewandt. Aber die Teilnahme am Karneval ist für die Samba-Schulen sehr teuer.“

Wie sieht Alex Mello den wachsenden Einfluss der Evangelikalen, gerade im Hinblick auf den Karneval? „Die Samba-Schulen haben Schwierigkeiten, genügend Baianas zu finden, die älteren Damen, die kochen, aber auch mittanzen. Sie sind fast alle evangelikal geworden. Oder jüngere Menschen, die Musik machen. Jetzt musizieren sie in der Kirche. Lula und Dilma hatten Perspektiven geschaffen. Aber um bestimmte Teile der Gesellschaft hat sich die Politik nie gekümmert. Dort sind die evangelikalen Kirchen hin und haben die Leute für sich gewonnen. Kriminalität und Armut sind stark gewachsen, die soziale Schere geht auseinander. Leider waren die Samba-Schulen während der Pandemie geschwächt und konnten nicht mehr nach allen gucken. Gleichzeitig wurde der Karneval stigmatisiert. Dabei bewegt er sehr viel Geld. So viele Menschen leben das ganze Jahr davon.“

In Momenten wie diesen erwacht der Widerstand. Die Samba-Schulen besinnen sich auf ihre eigene Kraft. „Worüber singen wir, und womit provozieren wir die Gesellschaft? Als Marielle Franco ermordet wurde, machte die Samba-Schule ‚Mangueira‘ sie in ihrer Performance zum Thema – und gewann! (1) Das zeigt: Wir haben zwar nicht die Macht, aber Kraft.“

(1) Die linke Stadträtin wurde 2018 erschossen, Mangueira erwies ihr im Karneval 2019 in einem Songtext und mit einem großen Porträt die Ehre.

Das Gespräch mit Alex Mello führte Britt Weyde am 22. Dezember 2023 in Bonn. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 472 Feb. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Britt Weyde / Informationsstelle Lateinamerika:

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