Putin zum Trotz: Unterwegs auf Berlins Straße der Befreiung – Die Rote Armee drang über die heutige Bundesstraße 1 nach Berlin vor. Unser Autor erinnert an Opfer und Verstecke im Kleingarten.

Auf der ältesten und längsten deutschen Fernverkehrsstraße F1 überquerte Anfang Mai 1945 die Rote Armee die Berliner Stadtgrenze. In ihrem Verlauf vom Alex aus änderte die heute als B1 bezeichnete Fernstraße ein paarmal ihren Namen. Vom Alex stadtauswärts führt sie zuerst als Karl-Marx-Allee ab dem Strausberger Platz durch das ehemalige Vorzeigequartier für verdiente Arbeiter, Trümmerfrauen, Aktivisten und einige Prominente aus Kunst und Wissenschaft der DDR. Heute ist dieser Abschnitt der Allee mehr eine Straße für Besserverdienende und Kapitalanleger aus dem Westen.

Nach der imposanten Brücke über die Bahnanlagen und den Fernbahnhof Lichtenberg heißt die B1 Alt Friedrichsfelde. Dieser Abschnitt trug von 1975 bis 1992 den Namen Straße der Befreiung. Zu Recht, denn diese Straße war Orientierung für die Stoßarmee der Roten Armee mit dem Auftrag, das Regierungsviertel der Aggressoren einzunehmen.

Nach der Unterquerung der Kreuzung Rhinstraße/Straße Am Tierpark verläuft die weitere Strecke zwischen hohen Resten alter Brücken. Der Beton der Auflieger der ehemaligen Eisenbahnbrücken ist völlig zernarbt von den Treffern großer und kleiner Geschosse.

Hier stand in den letzten Kriegstagen hinter Panzersperren das letzte Aufgebot Hitlers im sinnlosen Endkampf zur Verteidigung Berlins. Hier starben jugendliche Hitlerjungen neben Männern im Alter ihrer Großeltern, ihre Väter waren oftmals bereits an der Ostfront gefallen. Vermutlich werden auch diese Zeugnisse der harten und für beide Seiten verlustreichen Kämpfe dem Straßenbauprojekt „Tangentiale Verbindung Ost“ weichen müssen.

Heute missbraucht Putin die Opfer der Roten Armee

Allein die Erinnerung an die vielen Toten an dieser Stelle würde auch heute noch den Namen Straße der Befreiung rechtfertigen. Heute missbraucht Putin die Opfer der Roten Armee im Kampf gegen die faschistische Wehrmacht als Rechtfertigung für seinen Angriffskrieg. Ich denke, wir sollten trotzdem keinen Zweifel zulassen, wem die Berliner Bevölkerung das Ende der Schreckensherrschaft zu verdanken hat.

Ein kleines Stück weiter sind die Richtungsspuren der B1 weit genug auseinandergerückt worden, um der Biesdorfer Kirche Platz zu geben. Platz, um wie eine Dorfkirche in einem kleinen märkischen Angerdorf auszusehen.

In Kaulsdorf dann geht die B1 leicht bergab. Dem kundigen Ost-Berliner ist dieser B1-Abschnitt zwischen Schilkins Wodka-Fabrik und Hultschiner Damm gut bekannt. Die B1 führt auf den sogenannten Berliner Balkon hinauf. Stadtauswärts fahrend sieht man links das Krankenhaus Kaulsdorf und angereiht die typischen Häuser, wie sie überall in den Randgebieten stehen. Aber auf der rechten Seite kann der Blick den Hang hinunter frei über Felder und kleine Gewässer schweifen. In der Ferne sieht man die Köpenicker Siedlungen und oft kann man noch weiter bis zu den Müggelbergen schauen. Dieser „Balkonblick“ ist einmalig in Berlin und kommt für den Ortsfremden unerwartet daher.

Zu den in der Senke, hinter den Feldern lebenden Berlinern zweigt eine einzige Straße ab, der Kressenweg. Vor den ersten Köpenicker Siedlungshäusern liegen noch Kleingartenanlagen und einige Gärten sind rings um kleine Seen angelegt. Wassergrundstücke für den kleineren Geldbeutel und schon immer sehr begehrt!

Im Hintergrund macht sich wie ein Tinnitus die Stadt mit Auto- und Bahnverkehr bemerkbar und die nach Schönefeld anfliegenden Jets sind auch nicht ganz lautlos unterwegs. Aber alles ist nur als Hintergrundgeräusch zu hören, das man ignorieren kann. Großstadt-Stille in der Vorstadt-Idylle.

Kleingartenanlage als Versteck für NS-Verfolgte

In den 30er-Jahren war es hier auch schon ruhig. Diese Ruhe und relative Abgeschiedenheit halfen nicht nur den Bewohnern im Krieg, die Bombennächte besser zu überstehen. Abgeschiedenheit und Bäume verdeckten die Identität einiger verfolgter, unangepasster und widerständiger Bürger dieser Stadt.

Leider gab es auch hier in den Gartenanlagen Missgunst, Neid, Fanatismus und Geldgier, mit der manche ihre Mitmenschen an den Galgen oder ins Gas brachten. Zusammen mit denen, die immer wegschauten und nie etwas gewusst haben wollten, war das die Mehrheit.

Vor einigen Jahren erlebte ich in ebendieser Gartenanlage an der ehemaligen Straße der Befreiung eine berührende Begegnung. Ich machte als Versichertenberater der Deutschen Rentenversicherung Bund einen „Hausbesuch in Rentenangelegenheiten“. Auf mein Klingeln kam mir eine ältere Frau entgegen. Sie bat mich herein und wir gingen ins Wohnzimmer.

Hier dominierten Möbel aus den 50er-Jahren, ergänzt durch Fernseher und einige Accessoires aus heutiger Zeit. Ein paar Bilder der Familie und ihres verstorbenen Mannes ergänzten die Einrichtung. Auf einem kleinen nierenförmigen Tischchen, einem typischen und unverzichtbaren guten Einrichtungsteil der 60er-Jahre, standen zwei Kaffeegedecke und eine kleine Etagere, wie sie sicherlich auch bei Queen Mum zu ihrem Five o’Clock Tea üblich war. Kleine, liebevoll belegte Schnittchen waren auf der Etagere angerichtet.

Natürlich hatte meine Gastgeberin auch die Servietten nicht vergessen, Sahnekännchen und Zuckerdose nebst frisch gebrühtem Kaffee standen bereit. „Bitte“, sagte meine Gastgeberin, „das sind nur ein paar Ohnmachtshäppchen.“

Ich ließ nicht allzu viel Zeit verstreichen, um zum Anliegen meines Besuchs zu kommen. Es ging um die Witwenrente der Dame. Bei meiner charmanten Gastgeberin war die Sachlage recht einfach. Ihr stand eine Witwenrente zu, alle notwendigen Papiere für eine Klärung der Ansprüche hatte die Dame bereitgelegt. Ich stellte fest, dass ihr verstorbener Mann Kriegsversehrter war, er hatte ein Bein verloren. Die Witwe begann zu erzählen.

Blick vom Berliner Balkon auf die brennende Stadt

Mir fiel auf, dass sie eine ungewöhnlich kräftige, sonore Stimme hatte, und ich fragte sie, ob sie mal eine Gesangsausbildung gemacht hat, das Klavier in der Stube war nicht zu übersehen. Sie fragte, wie ich darauf kommen würde. Ich antwortete ihr, dass mir die Stimme, die für eine Berlinerin ungewöhnlich saubere, akzentuierte Aussprache und ihre bewusst aufrechte Haltung aufgefallen sind. Nun gab es für die Witwe kein Halten mehr.

Sie berichtete, dass sie als Halbjüdin noch recht lange nach der Machtergreifung der Nazis Schauspiel- und Gesangsunterricht nehmen konnte. Als sie dann auch den gelben Stern tragen sollte, ist sie zu Verwandten nach Biesdorf gezogen. Hier lebte sie zurückgezogen und traute sich nur nachts ins Freie.

Als dann die Bombenalarme immer länger andauerten, sind sie und Freundinnen manchmal hoch zur B1 gelaufen und haben vom „Balkon“ auf die lichterloh brennenden Stadtteile Berlins geschaut. Wenn sie unbeobachtet waren, zum Beispiel in regennassen Nächten, dann tanzten und sangen sie leise im Garten unter freiem Himmel. Das waren für sie schöne Momente und im Nachhinein die einzigen Auftritte, die sie als Künstlerin in ihrem Leben hatte.

Bei den Verwandten im Gartenparadies Biesdorf lernte sie im letzten Kriegsjahr ihren Mann kennen und sie bauten sich das Gartenhäuschen zum Wohnsitz aus. Ein „Heimatschuss“ hatte ihm ein Bein genommen, aber das Leben gelassen. Sie war endlich nicht mehr allein und lernte die Liebe kennen. Sie waren überglücklich und endlich frei, als mit den Russenkolonnen auf der B1 der Frieden kam.

Für sie war das seitdem immer auch die Straße ihrer persönlichen Befreiung, egal wie sie nun offiziell genannt werden sollte. Und für sie war das Kriegsende kein „Zusammenbruch“, es war tatsächlich die Befreiung. Die beiden heirateten, bekamen ein Kind. Als Schwerkriegsversehrter bekam ihr Mann eine DDR-Invalidenrente und sie eine kleine Rente als Opfer des Faschismus (OdF).

„Nie wieder Krieg, Bomben und Faschisten“

Für eine Karriere auf der Bühne wäre es damals eventuell nicht zu spät gewesen, aber das war ihr nicht wirklich eine Überlegung wert. Sie entschied sich für Mann, Kind und Garten. „Und“, betonte sie mit Nachdruck, „das habe ich nie bereut. Ich hatte ein schönes, erfülltes Leben. Das sollen mein Sohn und seine Familie auch haben. Nie wieder Krieg, Bomben und Faschisten.“ Darauf legte sie Wert, das war ihr wichtig.

Und heute? Es ist richtig, die europäische Friedensordnung gegen die russische Aggression zu verteidigen. Aber im Krieg verlieren alle Beteiligten. Kein einziger ermordeter Soldat wird durch einen Sieg wieder lebendig. Jede Bombe explodiert nur einmal und das Geld für dieses menschenfressende Feuerwerk wird für gute Schulen, Klimaschutz und ausreichende Renten fehlen! Auch im Gedenken an die 22 Millionen Opfer der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg sollten wir uns bewusst machen: Jeder Schritt, der uns früher zurück in die europäische Friedensordnung bringt, ist ein guter Schritt.

Peter Folmert, Jahrgang 1949, war von 1985 bis 1988 Lektor für Landeskunde im DDR-Kulturzentrum Stockholm. 1990 Pressereferent im Präsidium des DRK der DDR, danach Umschulung zum Sozialversicherungsfachangestellten einer gesetzlichen Krankenkasse, nach den Hartzreformen Betreiber einer chemischen Reinigung und Dozent, heute Rentner. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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