Wie ich eine Diskussion gegen ein Kleinkind verlor – Unser Autor ist Vater von zwei Kindern. Einer seiner Söhne erteilte ihm vor vielen Jahren eine Lektion. Er brauchte dazu nur ein einziges Wort.

Mit meinem jüngeren Sohn hatte ich vor vielen Jahren ein Schlüsselerlebnis. Ich weiß nicht mehr genau, wie alt er war. Er konnte mich schon gut verstehen, sprach selbst aber vorwiegend einzelne Wörter, noch nicht in vollständigen Sätzen. Er wollte mit mir raus zum Spielen und konnte den Wunsch auch verständlich machen. Es regnete draußen, weshalb ich ihm sagte: „Wir können nicht raus, es regnet.“ Er sah mich mit großen Augen an, legte seine flache Hand auf den Kopf und sagte nur ein Wort: „Hut.“

Ich war völlig perplex. Ein erwachsener Mann mit abgeschlossenem Hochschulstudium verliert eine Diskussion gegen einen Jungen, der gerade erst ein paar Worte reden kann.

Was ist passiert? Mein Sohn möchte mit mir raus und spielen. Das ist etwas Gutes, das mache ich gerne. Aber es regnet und ich bin nicht der Typ, der bei Regen spazieren geht. Beides subjektive Einschätzungen, die ich blitzschnell, ohne mir dessen bewusst zu sein, gegeneinander abgewogen habe. Im Ergebnis möchte ich im Haus bleiben. Mein Gehirn produziert eine Ausrede, die es für logisch hält, zumindest logisch genug, um ein Kleinkind zu überzeugen. Das Ganze hat vielleicht eine Sekunde gedauert. Genauso schnell hat mein Sohn die Ausrede durchschaut und eine adäquate Lösung angeboten: „Hut.“

Es gibt Erfahrungen im Leben, die einen nicht so schnell loslassen. Die „Hut“-Niederlage zählt für mich dazu. Ich habe aufgegeben, mich für einen Verstandesmenschen zu halten, der immer rational handelt und entscheidet; tief sitzende Gefühle können meinen Verstand nach Belieben in die gewünschte Richtung lenken.

Die eigenen Gefühle

Nach diesem Tag habe ich mein Verhalten gegenüber meinen Kindern geändert. Wenn sie etwas wollten und ich zustimmen oder es ablehnen musste, oder wenn ich wollte, dass sie etwas tun oder lassen sollten, habe ich sorgfältig nachgedacht und versucht, mir die wahren Gründe meiner Entscheidungen vor Augen zu führen. Oft stellte ich fest, dass es mir gar nicht nur um die Kinder ging, sondern häufig um meine eigenen Gefühle.

In einem Erziehungsbuch las ich später einen schönen Ratschlag für solche Alltagssituationen: Wir sollten Ich-Botschaften formulieren. In meinem Fall wäre die Ich-Botschaft: „Ich habe keine Lust, bei Regen nach draußen zu gehen.“

Nach dem Erlebnis habe ich versucht, meine Kinder wie Erwachsene zu behandeln. Karl Valentin wird das Zitat zugeschrieben: „Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach.“ Ich habe weitgehend auf klassische Erziehungsmethoden verzichtet, sprich Gebote, Verbote oder Strafen. Ob das immer eine gute Idee war, lässt sich schwer sagen, bei meinen Kindern hat es jedenfalls ganz gut funktioniert.

Aus dem Kleinkind ist mittlerweile ein junger Mann geworden. Er studiert Germanistik, was erstaunlich ist in Anbetracht der Tatsache, dass ich Legastheniker bin. Ich habe mich daran gewöhnt, Diskussionen gegen ihn zu verlieren und bei falscher Aussprache von Fremdwörtern korrigiert zu werden. Alles in allem haben mich meine beiden Söhne ganz gut erzogen.

Rainer Keller wurde 1960 geboren und arbeitete mehrere Jahrzehnte als Ingenieur im Bereich Elektronik- und Softwareentwicklung. Er ist Vater von zwei Kindern. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Über Reiner Keller / Berliner Zeitung:

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