Das Beste von Gestern: Pandemiepolitik und Diktatur

Gestern bedauerte ich noch mehr, als ich es sowieso schon tat, dass ich vor wenigen Wochen eine Verabredung zum Kaffeetrinken mit Andreas v. Westphalen aus Termingründen absagen musste. Er hat mit der Aufarbeitung der Corona-Politik schon mal angefangen. Kurz und polemisch kann er nicht. Darum sind bei telepolis drei Teile angekündigt. Hier geht es los: Corona-Untersuchung: Das Schweigen sollte enden – Von Gruppendenken bis zu übertriebenen Maßnahmen – auf dem Prüfstand: Deutschlands Corona-Politik. Warum müssen die Bürger so lange auf eine Untersuchung warten?”

Zu dieser – redaktionellen – Aufmachung habe ich Einwände, die ich in dieser Diktion im Text so nicht wiederfinde. “Das Schweigen” gibt es nicht – dafür ist der Text des Autors mit zahlreichen Belegen und Zitaten Beweis genug. Das Warten “auf eine Untersuchung” (fett von mir) ist ein Kinderglaube. Viel gewonnen wäre durch einen kritisch-sachlichen Diskurs mit zahlreicheren Disziplinen und Teilnehmer*inne*n, als während der Pandemie.

Und hätte ich mit dem Autor schon Kaffee getrunken, hätte ich ihn von einem Fehler abgehalten. Er zitiert den Grünen-MdB Janosch Dahmen mit einem bösen Zitat gegen den FDP-MdB-Kubicki. Mann mag an Dahmens Pandemie-Position viel kritisieren – aber dieses Zitat über Kubicki ist absolut zutreffend. Kubicki im fortlaufenden Text mit Klaus Stöhr in eine Linie zu stellen, ist eine Ehre, die der Kerl, den ich seit 1977 persönlich kenne, nicht verdient. Vielmehr ist der die Individuum gewordene Idealpersönlichkeit für den “Kampf um Deutungshoheit”, der die wissenschaftliche Evidenz der Coronapolitik so stark belastet hat, wie Westphalen selbst wiederum zutreffend analysiert.

Das Problem der Pandemiepolitik, wie auch ihrer Aufarbeitung, ist strukturell. Politiker*innen, die bereit und in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen, sind ein seltenes Gut. Verantwortung ist für das Politiker*innen*dasein die – gefühlt – grösste Gefahr. “Mir sagt ja keiner was – Ich war schon immer dagegen – Da habe ich schon immer vor gewarnt – Da bin ich nicht dabeigewesen – Auf mich hört ja keiner – Der Koalitionspartner ist schuld” Wer hat das alles nicht schon oft gehört?

Schröder und Fischer hatten – bei aller Kritik, die ich auch selbst geübt habe und übe – noch “den Arsch in der Hose”. Sie wurden dafür nach ihrer Politikerkarriere vom Kapital reich belohnt. Von den heutigen, die ich noch persönlich kenne, würde ich Claudia Roth oder Katja Dörner nennen. Sie sind nicht zum Reichwerden übergegangen. Sie suchen und finden Respekt über Medien hinaus, oder notfalls auch ohne/gegen die. Seltene Edelsteine in einer weit mehrheitlich mediengetriebenen Branche. Und das ist ein grundlegendes Struktur- und Verfassungsproblem.

Medien sind Treiber und Getriebene der kapitalistisch strukturierten Aufmerksamkeitsökonomie. Sie sind durch die Verfassung geschützt, aber darum aus gutem Grund keine in der Verfassung verankerte “vierte” Staatsgewalt. Gewählte Politiker*innen haben völlig andere – bis hin zu: entgegengesetzte – Aufgaben und originäre Interessen. Wenn sie nicht bereit und in der Lage sind, diese zu erledigen und zu erfüllen, sind sie für ihr Amt ungeeignet. Und von denen waren in der Pandemiepolitik erschreckend viele zu erkennen. Sie wussten, und die meisten bis heute, noch nicht einmal, wie sie sich bei verzeihlichem Mangel an (wissenschaftlichem) Sachverstand effizient und wirksam beraten lassen müssen.

Am unkontrollierten Ende: berstende Egos

Die kluge Isolde Charim/taz berichtet und kommentiert aus österreichischen Untersuchungen dortiger Finanzkriminalität und Geheimdienstpolitik: Übersteigertes Selbstbewusstsein: Gewaltenteilung für das Ego – Von Mitarbeitern des Österreichischen Verfassungsschutzes über Ex-Wirecard-Chef Marsalek bis hin zu Autokrat Putin gibt es eine psychologische Linie”.

Was Charim hier beschreibt, hat weder Österreich noch Russland exklusiv. Die Herren Schröder und Fischer (“das Tier”) erwähnte ich oben schon. Diesen Typus gibt es in allen Systemen – und vor allem in allen Grosskonzernen, Parteien, Bürokratien, Sicherheitsorganen und Geheimdiensten. Frau nennt es toxisch.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net