Die TTIP- Leaks von Greenpeace mögen Dokumente an die Öffentlichkeit gespült haben, die nicht mehr zu 100% den aktuellen Stand der Verhandlungen zwischen EU und den USA wiedergeben: Das ist im Prinzip egal. Es geht um das, was Pro- TTIP- Parteien und die EU-Kommission nicht verstanden haben: Die US- und EU-Bürger sind demokratischer, als gedacht und sind nicht mehr gewillt, sich Verschlechterungen des Verbraucherschutzes, Eingriffen in Bürgerrechte und die politische Souveränität, Abbau von Rechtsschutz und vor allem Geheimnistuerei gefallen zu lassen. Es ist den EU-Verantwortlichen nicht klar, aber durch die Geheimverhandlungen bringen sie genau das Misstrauen voran, das nicht nur die Linke, sondern vor allem die frustrierten, populistischen EU- und Euro- Gegner antreibt. Die populistischen Regierungen in Polen, Tschechien und Ungarn sowie die ÖDP in Österreich, Le Pen in Frankreich, UKIP in Großbritannien und die AfD in Deutschland profitierten davon.
Geht es nach den TTIP- Gegnern bei Attac und den Grünen, ist eigentlich ist alles recht einfach gestrickt: Die Chemie- und Gentechnikkonzerne sowie die Handelskonzerne der USA wollen nach Europa expandieren und endlich die lästigen, von den Bürgern und NGOs erkämpften Verbraucherschutzstandards schleifen. Viele Unternehmen in Europa wollen das natürlich auch. Datenkraken wie Facebook und Google wollen die gerade beschlossenen, strengen europäischen Datenschutzregeln aushebeln. Die Automobilindustrie Europas möchte noch leichter in die USA exportieren, obwohl das aufgrund ihrer dortigen Werke nur bescheidene Vorteile bringt und die Abgasgesetze – siehe “VW- Dieselgate” – beiderseits des Ozeans zu scharf sind. Befürworter des TTIP- Abkommens werden in diesen Tagen nicht müde, auf den Abschluss des Abkommens zu dringen, weil sonst die USA mit ganz anderen Staaten wie China Standards festlegen würden, die viel niedriger seien. Dieses Argument der vorauseilenden Selbstmarginalisierung der EU mag vielleicht in den 80er Jahren gegolten haben: Heute haben die USA ein ganz erhebliches Interesse, mit einem Wirtschaftsraum von über 500 Millionen Menschen – mehr als doppelt soviel, wie im US-Binnenmarkt – zusammen zu arbeiten.
EU tritt wie Bittsteller auf
Von daher gesehen sind die USA ökonomisch der Juniorpartner des Abkommens und die EU müsste eigentlich ganz selbstbewusst auftreten. Warum, hat man den Eindruck, tut sie das nicht und warum vermitteln Politiker von CDU und SPD uns eigentlich immer, dass wir Europäer quasi als Bittsteller froh sein müssten, mit dem “Großen Bruder” USA verhandeln zu dürfen und dabei auf jeden Fall Zugeständnisse notwendig seien? Um zu verstehen, was bei den TTIP- Verhandlungen wie abläuft, soll ein langjähriger Beamter des Kanzleramtes und des Bundesministeriums für Landwirtschaft zitiert werden: “Man muss sich die Verhandlungen so vorstellen, dass die Delegationen der EU-Kommission und der Regierung der USA sich gegenüber sitzen. Im Hintergrund sitzen auf USA-Seite die Lobbyisten, die deregulieren wollen. Hinter der EU-Kommission sitzen nun nicht etwa NGOs, sondern ebenfalls Lobbyisten, denen die in der EU geltenden hohen Umwelt- und Verbraucherstandards weitgehend ein Gräuel sind. Die EU-Bürokraten vertreten also recht halbherzig die von den Verbraucherschutz- und Umweltorganisationen jahrelang und zäh und hart erkämpften Schutzstandards, während von der Gegenseite – außer den in USA strengeren Zulassungskriterien für Arzneimittel und in Sicherheits- und Überwachungsfragen – nur Deregulierung auf der Tagesordnung steht. Das Ergebnis eines solchen Prozesses ist aufgrund der Zusammensetzung der Verhandelnden und Beratenden sehr absehbar.”
Konzerne gegen demokratische Selbstorganisation
Fakt ist also, dass es bei den Verhandlungen um TTIP weniger um ein Abkommen geht, das offen zwischen Nationen und ihren Parlamenten geschlossen wird, um den Bürgern wie der Wirtschaft mehr gleichberechtigten Austausch und Gestaltungsraum zu ermöglichen, sondern mehr um ein Abkommen der Interessenvertreter von Konzernen und Anwaltsindustrie gegen die Macht der Selbstorganisation von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisation und demokratischen Rechten der nationalen Parlamente. Die EU-Kommission und die US-Regierung sollen dabei als Notare fungieren.
Logisch, dass so etwas im Geheimen verhandelt werden muss.
Parlamente auf ewig binden
TTIP ist bisher nicht freier Handel für möglichst viele Anbieter, sondern die dort festzulegenden niedrigen Standards sollen sogar für alle Zukunft die nationalen Parlamente und die Partner unabänderlich binden. So sollen einmal privatisierte staatliche Unternehmen wie etwa ÖPNV, Strom- und Wasserversorgung in Zukunft unumkehrbar in privater Hand bleiben und Gesetzgeber an einer Verstaatlichung oder Vergesellschaftung gehindert werden. Dabei haben fast alle Kommunen, die zu Beginn des Jahrtausends durch die damaligen “sale and lease back” Geschäfte mit Straßenbahnen und Infrastruktur auf große Gewinne hofften und meist hohe Verluste erlitten, inzwischen zumeist ihre Anlagen zurückgekauft. Das sollen sie künftig nicht mehr dürfen. Was in TTIP als “Investitionsschutz” daher kommt, ist nichts anderes, als die schleichende Aushöhlung der Souveränität der gesetzgebenden Organe in Europa und die versuchte Ausschaltung der kommunalen Selbstverwaltung in bestimmten Fragen der Grundversorgung. Das kann nicht gut gehen.
Aushöhlung der Gerichtsbarkeit
Damit nicht genug – auch die unabhängige Justiz soll durch “Schiedsgerichte” geschleift werden. Die richterliche Unabhängigkeit, Errungenschaft von 300 Jahren demokratischer Revolutionen und Bestandteil der Gewaltenteilung, will die USA weiterhin durch geheime Hinterzimmergerichte privater Anwaltskanzleien ersetzen. Bei diesen “Gerichten” wechseln sich ausgesuchte Anwälte in Vorsitz und Vertretung von Unternehmen A oder Staat B, X oder Y munter ab. Sie verhandeln dann, was schon jetzt aufgrund solcher Abkommen verhandelt wird, nämlich wie viele hundert Millionen Dollar Entschädigung der Staat Ägypten wegen der Erhöhung des Mindestlohnes für Tagelöhner an internationale Arbeitsverleiher zahlen soll. Oder wie hoch die Entschädigungen an Strom- und Chemiekonzerne für den entgangenen Gewinn aus dem Atomausstieg oder des Verbots des Handels mit einem nicht mehr zugelassenen Pestizid sein sollen. Die Kanzleien der Anwaltsindustrie, die inzwischen Regierungen von Brasilia bis Kapstadt, von Singapur bis New York und Madrid bis Warschau, Berlin und Paris beraten, lauern auf einen Milliardenmarkt. Eine differenzierte Position dazu lassen die USA bisher nicht zu.
Internationale Gerichtsbarkeit als Alternative
Es ist natürlich verständlich, wenn Wirtschaftsverfahren vor z.B. italienischen Gerichten erst nach 3-7 Jahren entschieden werden, – das kann ganze Unternehmen zerstören. Aber die Alternative kann dann nur ein internationaler Wirtschaftsgerichtshof sein, dem unabhängige, demokratisch gewählte oder entsandte Richter vorsitzen und der durch die Vereinten Nationen oder in einem ersten Schritt zunächst nur die EU und die USA legitimiert ist. Dann ist es an den USA, ein solches Zivilgericht zu akzeptieren. Dass sie sich bisher weigern, den internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag anzuerkennen, kann kein Argument sein, denn es soll ja um rechtsstaatliche Verfahren im Handelsverkehr gehen.
Normen-Saurier
TTIP ist sonst erledigt. Als eine erfahrene Parlamentarierin gelesen hatte, was es alles regeln soll, sagte sie mir, hielt sie das Scheitern für höchst wahrscheinlich. Man könne kein Gesetz machen, das Handel, Zölle, Investitionen, Steuern, Arbeitsstandards, Umweltschutz, Energie, öffentliche Sicherheit, Medizin, Justiz, Gentechnik, Industrienormen, IT-Sicherheit, Datenschutz und Rechte der Kommunen und vieles anderes mehr in einem Entwurf regelt. So ein Normen-Saurier geht am eigenen Umfang und der Komplexität zugrunde.
Überflüssig wie ein Kropf
Sinnvolle Abkommen zwischen EU und den USA über den Abbau von Handelsschranken und Bürokratie sowie rechtsstaatliche Verfahren sind notwendig und sinnvoll. Wer einmal mit Hund in USA Urlaub machen oder einen Oldtimer re-importieren wollte, weiß das. Wer will, dass der Mittelstand nach USA exportieren kann und nachhaltige ökonomische Modelle auch in Übersee eine Chance haben sollen, wird sich vernünftigen Abkommen nicht verschließen. Auch das vernetzte Auto der Zukunft beispielsweise braucht klar umrissene Standards und Abkommen zum Schutz der Privatheit der Verbraucher. Denn was nicht gehen wird, ist ein Zurück in nationale Inseln, wie sie die Populisten landauf landab predigen. Sie bedeuten den ökonomischen Ruin und eine wieder steigende Kriegsgefahr – auch in Europa. Aber was allen nützt, den Bürgern wie der Wirtschaft, kann getrost auch weitgehend öffentlich verhandelt werden.
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