Die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz hat jahrelang ihren Lebenslauf gefälscht und sich als “Juristin” ausgegeben, obwohl sie weder Abitur hatte, noch jemals Rechtswissenschaften studiert hat. Nicht nur die Abgeordnete Hinz schadet mit ihrem Verhalten dem Bundestag. Viele, die derzeit öffentlich Konsequenzen fordern, tun es ihr gleich. Auch NRW-Justizminister Kutschaty, der als Essener SPD-Vorsitzender einen Beschluß des Kreisvorstandes herbeigeführt hat, der Hinz auffordert, “binnen 48 Stunden” ihr Mandat niederzulegen.
Als Justizminister könnte ein solcher Vorstoß am Rande der Verfassung möglicherweise auf ihn zurück fallen.
Natürlich ist es politisch verständlich, dass die SPD verurteilt, dass Hinz der Partei Schaden zufügt. Der Vorstand kann oder muss auch, wie von Kutschaty angekündigt, ein Parteiordnungsverfahren anstrengen. Sie selbst könnte der Partei einen großen Dienst erweisen, wenn sie freiwillig aus der Fraktion austräte. Aber Parteimaßnahmen sind das eine, nötigender Druck auf die Abgeordnete als Mitglied des Verfassungsorgan Bundestag, ihr Mandat niederzulegen, eine ganz andere Sache. Die SPD-Fraktion im Bundestag kann sie jederzeit mehrheitlich von ihren Funktionen in Ausschüssen entbinden, sich von ihr trennen, sie aus der Fraktion ausschließen. Es kann aber nicht angehen, wie derzeit Druck auf sie ausgeübt wird, ihr Mandat niederzulegen. Das richtet sich nicht nur an die SPD. Wer sich wie die “Welt” oder der “Focus”, darüber empört, dass Hinz “noch für September fast 14.000 Euro Diäten und Pauschalen kassiert” oder “beim Warten auf ihn (den Bundestagspräsidenten) ganz nebenbei noch mehrer Tausend Euro verdient”, betreibt Parlamentarismuskritik auf dem Niveau von Populisten und Rechtsextremisten. So undifferenziert labern selbsternannte “politisch Korrekte” in Wirklichkeit die Demokratie kaputt.
Bei der Frage der Mandatsniederlegung geht es nicht um die tragische, zweifelhafte Person Hinz, die sich längst politisch disqualifiziert hat. Es geht um das Mandat an sich, um die Freiheit des Bundestagsmandats nach Artikel 38 Grundgesetz, das sie aufgrund der Wahl errungen hat und aus guten historischen Gründen nur freiwillig aufgeben kann. Gerade nach der Erfahrung der Weimarer Republik und ihrem Ende, als vor allem aus den Reihen der Kommunisten und Nationalsozialisten sowie der Hugenberg-Presse Reichstagsabgeordnete diffamiert, unter Druck gesetzt und genötigt wurden, verbietet es sich, – und sei der Fall noch so abstrus, – dass Dritte ein Mandat im Namen einer Partei oder einer wie auch immer sich berechtigt fühlenden Öffentlichkeit vereinnahmen.
2005 und 2009 gewann Hinz ihren Wahlkreis direkt, 2013 war sie über die SPD-Landesliste abgesichert. Kaum glaubhaft, dass ihre Biografie dabei eine nennenswerte Rolle spielte, geben doch bei Kandidatenaufstellungen traditionell innerparteiliche Flügelzugehörigkeiten eher den Ausschlag, als irgendwelche beruflichen Qualifikationen. Zum Erwerb eines Bundestagsmandats sind keinerlei berufliche oder schulische Abschlüsse Voraussetzung. Manch öffentliche Empörung entbehrt daher nicht einer gesunden Portion Heuchelei. Als 1972 mit der Unterzeichnung der Ostverträge im Zuge der Entspannungspolitik reihenweise Abgeordnete der Regierungsparteien SPD und F.D:P. austraten und ihr Bundestagsmandat nicht niederlegten, sondern zur CDU mitnahmen, spielte die verfassungspolitische Frage, ob Angeordnete einer Partei oder einer bestimmten Politik verpflichtet seien, eine wichtige Rolle. Damals wurde die Bedeutung des Artikel 38 und die Gewissensfreiheit des Mandats gestärkt. Das ist geltendes Verfassungsrecht und kann sich auch nicht ändern, nur weil eine einzelne Mandatsträgerin möglicherweise kein erkennbares Gewissen hat – da gab es schon viel schlimmere Fälle, von Wienand bis Wiesheu. Auch menschliche Unzulänglichkeit muss eine Demokratie aushalten. Das sollte auch der Justizminister wissen, der ohne Zweifel ein erstes und zweites juristisches Staatsexamen abgelegt hat.
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