von Jupp Legrand (Vorwort) und Sven Osterberg (Studie) / Otto Brenner Stiftung
Eröffnungsbilanz der Nebenverdienste der Abgeordneten zu Beginn der 19. Wahlperiode

Vorwort
Die Bundestagswahl im September 2017 hat die Bundespolitik kräftig durchgeschüttelt und die politische Landschaft der Bundesrepublik massiv verändert. Das Wahlergebnis macht es schwieriger, parlamentarische Mehrheiten zu organisieren und eine stabile Regierung zu bilden.
„Lagerübergreifend“ Koalitionsfähigkeit zu praktizieren, ist angesichts eines Parlaments, in dem jetzt sieben Parteien vertreten sind, zu einer großen Herausforderung geworden. Ist also das Ausbalancieren parlamentarischer Mehrheiten komplexer und die konkrete Regierungsarbeit nicht einfacher geworden, so bleibt dem Parlament in Zeiten von „Fake-News“ und demokratieverächtlichen Debatten in den Filterblasen der (a)sozialen Medien zudem ein „altes“ Problem erhalten: das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit des Parlaments sinkt und der Verlust von Glaubwürdigkeit der Volksvertreter konnte nicht gestoppt werden. Ein Grund für diese Entwicklung, die schon seit Jahren zu beobachten ist, dürfte das Thema Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte von Abgeordneten während ihrer mandatierten Zeit im Deutschen Bundestag sein. Einzelne skandalträchtige (Aus)Fälle haben immer wieder die Folge, dass das allgemeine Ansehen des Parlaments beschädigt und neuen Parteien Spielraum verschafft wird, diesen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der „politischen Klasse“ für sich nutzbar zu machen.

Schädlicher Verdacht für die Herzkammer der Demokratie

Die Otto Brenner Stiftung hat Nebeneinkünfte und Nebentätigkeiten von Abgeordneten stets im Zusammenhang mit dem großen Thema Lobbyismus gesehen. Wir haben 2011 mit der Studie Marktordnung für Lobbyisten eine Reihe begonnen, die sich mit der Frage beschäftigt, wie die Politik den Lobbyeinfluss regulieren kann. Denn ein zentrales Einfallstor für lobbyistische Einflüsse sind nach unserer festen Überzeugung die Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte von Abgeordneten. Schnell entsteht durch das breite „außerparlamentarische Engagement“ – mit zum Teil erheblichen finanziellen Beigaben – der Eindruck von Käuflichkeit: für den persönlichen Einsatz bevorzugter Einzelinteressen. Dass das ein besonders für die Herzkammer der parlamentarischen Demokratie schädlicher Verdacht ist und Auswirkungen weit über die konkreten Einzelfälle hinaus haben kann, dürfte unstrittig sein. Deswegen haben wir uns seit August 2013 in drei Studien mit der Praxis der Nebentätigkeiten im 17. und 18. Deutschen Bundestag beschäftigt und Thesen entwickelt, die auf der Basis der verfügbaren Daten geprüft, bestätigt oder verworfen worden sind.

Mit der nun hier vorgelegten vierten Untersuchung zu Beginn der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages sind die Möglichkeiten zur Einordnung der Problematik deutlich fundierter geworden. Einerseits nehmen wir eine Bestandsaufnahme im Frühjahr 2018 vor. Wir zeigen die Praxis der Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte im neu zusammengesetzten Parlament – wieder mit einer Fraktion der FDP und erstmals mit der AfD, die sich in ihrem aktuellen Grundsatzprogramm explizit zu einem deutlich schärferen Umgang mit Nebentätigkeiten und Nebeneinkünften bekennt. Andererseits können wir durch die umfangreichen Vorarbeiten der vergangenen Jahre interessante Vergleiche ziehen, die uns auch Hinweise auf Veränderungen erlauben.

Befunde

Einige Befunde aus unserer Eröffnungsbilanz zu Beginn der 19. Wahlperiode verdienen besondere Beachtung:
Weiterhin gibt knapp ein Drittel der MdB an, neben dem Mandat entgeltlich tätig zu sein; insgesamt sind es zu Beginn der 19. Wahlperiode mehr als zu Anfang der 18. Legislatur.
Die Zahl der Abgeordneten, die Funktionen in Unternehmen, Vereinen und Verbänden sowie
Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts ausübt, nimmt ab.
Die „Aufstockerei“ ist weiterhin vorwiegend ein Problem der Union und der FDP.
Die AfD mischt aber auch schon kräftig mit. Sie liegt sowohl hinsichtlich des Anteils der Abgeordneten, die eine bezahlte Nebentätigkeit angeben, als auch mit Blick auf das dabei verdiente Geld an dritter Stelle. Dass sie an den von ihr als käuflich diskreditierten Parteien SPD, Grüne und Linke vorbeizieht, widerlegt das gepflegte „Saubermann-Image“. Bei den Nebeneinkünften sieht die neue Fraktion schon recht „alt“ aus.

Neue Abgeordnete bringen ihre Nebentätigkeiten mit in den Deutschen Bundestag und zeigen kaum Interesse, auf diese Nebenjobs mit Zusatzeinkünften zu verzichten. Es sind „nur“ 18 Abgeordnete (2,5 % aller MdB), die mehr als die Hälfte aller angegeben Nebeneinkünfte beziehen.

Auch die Ergebnisse unserer vierten Untersuchung bestätigen, dass das Handlungsdefizit einer strengeren Regulierung der Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte bestehen bleibt. Zu Beginn der 19. Wahlperiode ist das Signal „Wir haben verstanden“ nicht aus dem Bundestag zu hören. Vielmehr entsteht der Eindruck, es soll alles bleiben wie es ist.

„Das Parlament ist töricht genug zu suggerieren, es könne käuflich sein.“

Dieses Zitat Herbert Hönigsbergers aus unserer ersten Studie zu den Nebentätigkeiten und Nebeneinkünften gilt nach wie vor auch heute. Es gibt weder ein Erkenntnisdefizit noch einen Mangel an Transparenz. Was fehlt, sind engagierte Handlungen, und was vermisst wird, sind konkrete Taten.

Es liegt weiterhin in der Gestaltungsmacht des Parlaments selbst, dies nachhaltig zu ändern.
Auch, um damit Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

Inhalt der Studie

Einführung
Methodischer Hinweis
1 Die Aufstocker bleiben eine privilegierte Minderheit
2 Die Aufstockerei – ein Problem von FDP und Union
3 Nebentätigkeiten der neuen Bundestagsabgeordneten4
4 Die bezahlten Nebentätigkeiten bleiben eine Männerdomäne
5 Direktkandidaten versus Listenkandidaten
6 Rechtsanwälte – Überrepräsentierte Hauptprofiteure
7 Abgeordnete in Unternehmensfunktionen
8 Weckt das Mandat Begehrlichkeiten?
9 Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte in den ständigen Ausschüssen
10 Nebeneinkünfte
11 Gesamteinkünfte
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen (im Anschluss dokumentiert)

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die Studie hat gezeigt, dass die erheblich veränderte Zusammensetzung des 19. Deutschen Bundestages und der Einzug der AfD an der Praxis der entgeltlichen Nebentätigkeiten nicht viel verändert hat. Die Gesamtsumme der Nebeneinkünfte lässt sich noch nicht klar beziffern, und sie ist auch nicht zielführend. Das haben die deutlich abweichenden Ergebnisse aus unseren zwei Erhebungen gezeigt. Ob die Gesamteinkünfte gleich geblieben sind oder sich erhöht haben, ist unklar. Hier zeigt sich das Problem der Art und Weise, wie die Verwaltung des Deutschen
Bundestages die Angaben der Abgeordneten auf Basis der Verhaltensregeln einfordert. Zum einen gibt es eine dreimonatige Frist zur Angabe, und zum anderen ist nicht klar, wie schnell und vollständig die Angaben angesichts ihrer Vielzahl auf die Webseite kommen. Im Zeitalter der „Digitalisierung“ sind durchaus Alternativen möglich, die auch dem Bürger einen aktuellen, einfacheren Zugang zu aggregierten und vergleichbaren Daten ermöglichen. Dies ist ein eindeutiger Auftrag an die Verwaltung des Deutschen Bundestages.

Eine privilegierte Minderheit

Das Aufstocken der Mandatsbezüge ist und bleibt ein Problem einer privilegierten Minderheit von einem Drittel der Abgeordneten. Vor allem aus Abgeordneten von Union und FDP setzt sich diese Minderheit zusammen.

Viele neue Abgeordnete bringen ihre Nebentätigkeiten mit in den Bundestag und zeigen wenig Absicht, sie aufzugeben. Lediglich sieben Abgeordnete haben ihre entgeltlichen Nebentätigkeiten bis April 2018 beendet. Frauen haben deutlich weniger entgeltliche Nebentätigkeiten als Männer. Rechtsanwälte sind weiterhin die am deutlichsten überrepräsentierte Berufsgruppe im Deutschen Bundestag. Sie verfügen allein über ein Viertel aller Nebeneinkünfte.

Das Engagement in Unternehmen ist auf den geringsten Stand seit Beginn der Studienreihe gesunken. Auffällig ist auch ein geringer werdender Grad gesellschaftlicher Vernetzung über Funktionen in Vereinen, Verbänden und Stiftungen sowie in Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts in fast allen Fraktionen. Die These, dass das Mandat Nebeneinkünfte und Nebentätigkeiten generiert, kann auf der Basis der veröffentlichungspflichtigen Angaben aus drei Wahlperioden nicht bestätigt werden.

Mandat im Mittelpunkt? – Ein Überblick ist möglich

Eine isolierte Betrachtung der Gesamtsumme der Nebeneinkünfte verleitet leicht dazu, alle Abgeordneten zu raffgierigen, nur an persönlicher Bereicherung interessierten Politikern zu degradieren. Das ist nicht der Fall. Nur eine verschwindend geringe Minderheit der Parlamentarier bezieht „unerhörte“ Summen aus Tätigkeiten neben dem Mandat außerhalb des Parlaments. 2005 hat der Deutsche Bundestag mehr Transparenz in die Nebeneinkünfte der Bundestagsabgeordneten gebracht. Seitdem ist tatsächlich mehr über die Nebeneinkünfte bekannt geworden. Es gibt heute Möglichkeiten, die Strukturen und Tendenzen der Entwicklung nach zuvollziehen. Die Bürger können sich einen, wenn auch aufgrund der unzeitgemäßen Darstellung, nur beschwerlichen Überblick verschaffen, ob ihr Abgeordneter oder ihre Abgeordnete ihrer präferierten Partei das Mandat auch wirklich in den Mittelpunkt der Tätigkeiten stellt.

Aber das Ansehen der Abgeordneten, die Nebeneinkünfte erzielen, und des Parlaments insgesamt, ist seitdem nicht sichtbar gestiegen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Ein Ausdruck dafür ist der Einzug der AfD in das Parlament, die sich als „Anti-Establishment-Partei“ geriert und eben unter anderem genau jene Ressentiments aufgreift, welche die öffentliche Skandalisierung besonderer Einzelfälle schüren. Die 10-Stufen-Regelung bleibt immer noch hinter dem öffentlichen Verlangen nach exakten Angaben zurück. Gerade die besonders interessierenden
Höchsteinkommen der Stufe 10 (250.000 €) sind nicht transparent. Doch selbst die Transparenz der Nebeneinkünfte ist kein Mittel mehr gegen den Ansehensverlust, wenn die Nebeneinkünfte und Nebentätigkeiten selbst das Skandalon sind wie die Causa Steinbrück lehrt.

Abgesehen von der Einführung eines Lobbyregisters und einer Dokumentation lobbyistischer Eingriffe sind weitere Maßnahmen, die noch mehr Transparenz schaffen, ohne erkennbaren Nutzen. Möglicherweise ist der Zeitpunkt schon überschritten, zu dem mehr Transparenz noch einen signifikanten positiven Einfluss auf das Bild der Politik und des Parlaments hätte haben können. Dennoch ermöglicht das erreichte Transparenzniveau längst Bewertungen und Urteile. Es legt den Schluss nahe, dass dem Ansehensverlust der Politik und des Parlaments nur noch Einhalt geboten werden kann, wenn mittlerweile transparente, aber inakzeptable Handlungen erheblich eingeschränkt oder überhaupt eingestellt werden. Das gilt nicht nur für Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte. Auch Parteispenden, Politiksponsoring oder der abrupte Seitenwechsel von Politikern nach dem Ende ihrer politischen Karriere und Externen in die Bundesverwaltung zählen dazu.

Steht das Mandat überhaupt im Mittelpunkt der Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete/r?
Das ist und bleibt die Kernfrage bei der Auseinandersetzung über Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte.
Können die angegebenen Nebeneinkünfte und Nebentätigkeiten überhaupt toleriertwerden?
Inwiefern sind sie mit der Stellung als Abgeordneter vereinbar?
Die Leitlinie bei der Bewertung aller Nebentätigkeiten muss die Stärkung, die Freiheit und die Glaubwürdigkeit des Mandats sein. Alles, was den Verdacht erregt, die Legitimität und Glaubwürdigkeit zu beschädigen, beschädigt die Demokratie. Die Unzulänglichkeit der bestehenden Regeln ist allgemein bekannt, aber die Weigerung, den Lobbyismus im Allgemeinen und grundsätzlich zu regulieren – jüngst das Streichen eines verbindlichen Lobbyregisters während der Koalitionsverhandlungen – nährt weiter den Generalverdacht von Abhängigkeit, Nachgiebigkeit, Käuflichkeit und Bestechlichkeit in jeder einzelnen politischen Aktion. Dieser fundamentale Legitimationsverlust wird ausschließlich vom Parlament selbst verantwortet. Weder Standortlogiken noch Globalisierungszwänge hindern das Parlament, tätig zu werden. Es ist seine genuine Aufgabe.

Dieser Vertrauensverlust stellt sich als das eigentliche Problem dar, weil Vertrauen eine notwendige Voraussetzung für die Demokratie ist.

Sven Osterberg, geboren 1971, arbeitet als Sozialwissenschaftler und Publizist in Berlin. Ausbildung zum Industrieelektroniker. Anschließend Studium der Soziologie, Politischen Wissenschaften und Sozialwissenschaften an der FU Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Gründungsmitglied und von 2006 bis 2015 Mitglied der Geschäftsführung des Netzwerks Nautilus Politikberatung. Tätig vor allem auf dem Gebiet der quantitativen und qualitativen Diskursanalyse.
Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt.

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