Von Peter Wahl
Neuer deutsch-französischer Freundschaftsvertrag bringt gemeinsamen Wirtschaftsraum im Sinne eines Kerneuropa erneut ins Gespräch

Wenn heute im Krönungssaal des Aachener Rathauses der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag unterzeichnet wird, geht ein Wunsch von Emmanuel Macron in Erfüllung: Die Übereinkunft in der Nachfolge des Élysée-Vertrags von 1963 gehörte in seiner vielgerühmten Rede in der Sorbonne im September 2017 zu dem »Reformpaket«, mit dem er die EU wieder in Schwung bringen wollte.

Allerdings ist das neue Abkommen nur noch der kärgliche Rest des Gesamtpakets, nur ein Trostpflaster. Denn das Kernstück, die Vorschläge für die Stabilisierung der Euro-Zone, ist inzwischen auf Merkel’sches Maß geschrumpft. Weder wird es einen Finanzminister für die Euro-Zone noch ein substantielles eigenes Budget noch ein Euro-Zonen-Parlament geben. Und auch die Vollendung der Bankenunion ist an stabilitätspolitische Bedingungen aus dem Katechismus der Bundesbank geknüpft. Einmal als »Retter Europas« angetreten, muss sich Macron jetzt dem deutschen Auf-Sicht-Fahren anbequemen – und auch das nur auf dem Beifahrersitz.

Der neue Vertragstext, der mir vorliegt, kann niemanden vom Hocker reißen. »Unambitioniert« schreibt dann auch prompt Le Monde. Neben viel Euro-Pathos und blumiger Freundschaftsrhetorik enthalten die 28 Artikel jede Menge Absichtserklärungen, aber wenig Konkretes. Typisches Beispiel: Die Außenpolitik soll enger abgestimmt werden, unter anderem in der UNO (Artikel 8), wo Berlin derzeit einen nicht ständigen Sitz im Sicherheitsrat hat. Damit wird übertüncht, dass der deutsche Finanzminister Olaf Scholz (SPD) kürzlich gefordert hatte, den ständigen Sitz Frankreichs mit dem dazugehörigen Vetorecht mit Berlin zu teilen. Paris denkt aber nicht im Traum daran, ausgerechnet auf einem Gebiet, wo es den Deutschen noch überlegen ist, was abzugeben. Das gleiche gilt für die französischen Atomraketen – in Deutschland wird wieder ungeniert über »atomare Teilhabe« spekuliert.

Ähnliche Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt es bei anderen Themen. So z. B., wenn noch unter Hollande nur mit Ach und Krach verhindert werden konnte, den Deutsch-Unterricht an französischen Schulen drastisch zu reduzieren – weil immer mehr Schulkinder lieber Englisch lernen.

Anderes wiederum bekräftigt nur, was auch ohne Vertrag schon läuft, so z. B. die Durchführung gemeinsamer Rüstungsprojekte und die Intensivierung der militärischen Kooperation im Rahmen der sogenannten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) in der EU oder die engere Kooperation bei der Entwicklung des digitalen Kapitalismus, bei künstlicher Intelligenz und digitaler Industrie.

Am weitreichendsten ist die Absicht »die Integration ihrer Volkswirtschaften hin zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln« zu entwickeln (Artikel 20). Falls das tatsächlich ernsthaft in Angriff genommen würde – vorerst ist ein gemeinsames Expertengremium geplant – wäre das europapolitisch insofern interessant, als es auf das Konzept »Kerneuropa« hinausliefe. Macron hat sich ohnehin schon früher als Anhänger des »Europa der zwei Geschwindigkeiten« geoutet. Ein Kerneuropa würde die Ausdifferenzierung der Integration intensivieren und die zentrifugalen Tendenzen in der Gesamt-EU weiter verstärken.

Andererseits dürften die Unterschiede zwischen dem exportgetriebenen Starkwährungsmodell der Deutschen und dem französischen, eher binnenmarktorientierten Schwachwährungssystem einer Integration ziemlich enge Grenzen setzen. Hier liegen die strukturellen Ursachen dafür, dass es bisher keinem französischen Staatschef gelungen ist, die Hegemonie der deutschen »Stabilitätskultur« zur brechen.

Der alte Vertrag zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer war Symbol für eine tatsächlich historische Wende: das Ende der Jahrhunderte alten »Erbfeindschaft« zwischen den beiden Ländern. Was das bedeutet, kann man heute kaum noch ermessen. Auch wenn es richtig ist, dass die wesentlichen Ursachen dafür weniger edle Gefühle aus der Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen wie Versöhnung und Freundschaft waren, sondern knallharte geopolitische Fakten: die totale Niederlage des deutschen Faschismus, die NATO und der Kalte Krieg.

Die deutsch-französische Achse eiert seit längerem. Der neue Vertrag ist Ausdruck dafür, was die herrschenden Klassen Frankreichs und Deutschlands unter Bedingungen einer allgemeinen ökonomischen, sozialen, ökologischen und politischen Krise des neoliberalen Kapitalismus noch zustande kriegen. Die Kanzlerin, inzwischen eine »Lame duck«, trifft einen entzauberten Schaumschläger, denn Macron steht innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand. Für Dienstag sind in Aachen deutsch-französische Protestaktionen angekündigt. Völkerfreundschaft von unten. Der Platz vor dem Rathaus, in dem der Festakt stattfindet, ist abgesperrt, und die Polizei hat schon mal vorsorglich das Tragen gelber Warnwesten verboten. Deutsch-französische Verhältnisse anno 2019.

Dieser Beitrag erschien zuerst gestern in der Tageszeitung Junge Welt, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Über Gastautor:innen (*):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.