Florian Rötzer, Telepolis-Chefredakteur und noch etwas älter als ich, hat sich Aufmerksamkeit bewahrt, für gesellschaftliche Megatrends, die zu komplex sind, um sie begierig in Massenmedien zu verwursten. Gestern richtete er seinen Blick nach Südkorea und Japan, den weltweit führenden “Early-Adopter”-Ländern in Bezug auf neue Technologien. Für Leute wie ihn und mich keine guten Nachrichten, vielleicht am schlimmsten aber für alle, die nach uns kommen.
Die Erfindung der Liebe war quasi gestern erst
Aus einem 1987 von der feministischen Rheinländerin Herrad Schenk veröffentlichten Buch “Freie Liebe – Wilde Ehe” habe ich gelernt, dass die “freie Liebe” eine Erfindung des Bürgertums war, die sich erst im Alltag durchzusetzen begann, als eben dieses Bürgertum die politische und ökonomische Macht errang. Das war in den reichen Ländern im 19 Jahrhundert. Zuvor war Liebe ein Unterhaltungsvergnügen des Adels – arabische Feudaldiktaturen wissen heute noch darüber Bescheid. Weltweit dominierte bis dahin die arrangierte Ehe, die nach strategischen Zweckmässigkeitserwägungen vollzogen wurde (oder auch nicht). Wir könnten jetzt die Phase erleben, in der die gesellschaftliche Dominanz dessen, was wir seitdem unter “Liebe” verstehen, schon wieder beendet wird – nach einem Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte, nur 300 Jahren. Und wir waren dabei!
Warum so kompliziert, wenn keine*r mehr Zeit hat?
Rötzer beobachtet richtig, dass das Werbespiel, das der traditionalistischen freien Liebe vorausgeht, bereits unter die Räder der Effizienz und Optimierung gerät. Das wird auch die Eheschliessung in den neoliberal dominierten kapitalistischen Ländern einholen. Das Kinderplanen und -machen ist ebenfalls bereits weitgehend technisiert – von der PID, den beliebten Kaiserschnitt bis zur Genmanipulation der Zukunft. Was möglich ist, wird gemacht.
Immer wird auch gespielt, und spassguerrillaartige Sabotage praktiziert. Ums Tindern herum ist ein breiter Markt an Betrugs-, Gewalt- und psychischer Misshandlung entstanden, wie er in allen anderen Bereichen der Gesellschaft auch existiert. D.h. solcherart Verbrechen und Grausamkeit sind nicht durch neue Technologien entstanden. Sie sind schon lange da, aber von besonders schneller Auffassungsgabe, um neue Technologien zu adaptieren. Ihre kulturell und humanistisch kontrollierte Nutzung durch das Sozialwesen Mensch benötigt dagegen viel mehr Zeit, und hinkt immer weiter hinterher. Das wäre eine klassische Aufgabe von Politik, die hier ebenso klassisch blamabel blankzieht.
In Südkorea und Japan sieht Rötzer – in meinen Augen zutreffend – Indizien, dass der Digitalkapitalismus Werkzeuge und Geschäftsmodelle entwickelt, um gelebten Sex zwischen Menschen zu ersetzen. Es geht auch unkompliziert. So ein anderer Mensch ist doch unendlich komplex, so irgendwie anders, unberechen- und -kalkulierbar. Und wo Roboter bereits in der Alten- und Krankenpflege zum Einsatz kommen, warum nicht in den Wachstumsmärkten Körper, Porno, Prostitution?
Japan liegt vor Kalifornien
Japan hat in dieser Hinsicht Kalifornien überholt. Sein Pornoausstoss ist unüberbietbar, quantitativ und qualitativ. Diversität, die in anderen Produktionszweigen noch gepredigt werden muss, ist dort Teil des Geschäfts, sie ist ökonomisch gesehen ein strategischer Imperativ. Das Bedürfnis der Konsument*innen, sich von der gesellschaflichen Bigotterie im datenstrategisch nur scheinprivaten Schutzraum abzugrenzen, ist dort grösser als im hedonistisch geprägten liberalen Kalifornien. Ausserdem ist die japanische Industrie kulturell kompetenter, um den asiatischen Markt zu erobern. Zwar versuchen erfolgreiche japanische Models, strategisch denkend wie Fußballer, zum Besserverdienen nach Kalifornien zu wechseln. Das heisst aber umgekehrt: die Ausbeutung der Arbeitenden durch das Kapital und die Profitraten sind in Asien grösser, für Investor*inn*en heisst das: besser.
Was kommt als Nächstes?
Die spannende Frage, auf die ich keine Antwort weiss: was werden China und Indien machen? Wird die Bigotterie ihrer herrschenden Klassen diese so verblenden, dass sie der japanischen Yakuza diese Märkte überlassen? Bei der Konkurrenz um die Weltherrschaft der Zukunft ist das keine Option. Illegalisierte Märkte versprächen Extraprofitraten, die Yakuza würde sich bedanken (bzw. sicher auch “erkenntlich zeigen”) – verzichten tun sie “nur” auf Arbeits-, Gesundheits- und Konsument*inn”en*chutz.
Und was kommt als Nächstes? Nach der Abschaffung von Sex und Liebe? Gut, wenn es so weit ist, werde ich schon tot sein. Aber werden sie auch den “Sex des Alters”, dass Essen und Trinken angreifen? Die Agroindustrie hat sich schon auf den Weg gemacht. Das viele Kapital muss ja irgendwohin.
Update 9.2.: Lesen Sie zur Vertiefung auch dieses sehr gelungene FR-Interview von Anja Reich mit der Soziologin Eva Illouz.
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