Kürzlich habe ich zwecks Perspektivenwechsel in der Brexit-Diskussion die Lektüre von Brendan Simms empfohlen. Die Tragweite dieser Empfehlung wurde mir jedoch erst heute vormittag richtig bewusst. Ich weiss jetzt besser, was er meint – nicht nur in Ableitung der Historie, sondern in der harten Gegenwart.
Ich will ausserdem vorausschicken: ich hasse Call-In-Sendungen im Radio. Sie sind ein mich als Zuhörer quälender Versuch der Sender, Geld für aufwendigeren Journalismus zu sparen. Prinzip der Dienstleistungsbranche: die Kund*inn*en selbst arbeiten lassen. Die meisten – Branchenschimpfwort: “Leserbriefschreiber” – die da anrufen, schmerzen schon deswegen Ohren und Kopf, weil viele von ihnen nie gelernt haben zu sprechen. Wer im Radio professionell sprechen will, muss in der Regel eine Sprechschule besuchen. Bei solchen Sendungen wird mir jedes Mal klar warum.
Besonders schlimm sind jeden Montag die “Kontrovers”-Sendungen des DLF, von denen ich meistens wegschalte, weil auch die professionellen Gäste sich nicht sprechen lassen, sondern gegenseitig wie in den TV-Talkshos ins Wort fallen, nur ohne Bilder. Heute war es anders.
Das lag an dem CDU-MdEP Daniel Caspary, dessen Rolle in der Interpretation austauschbar, aber gleichzeitig repräsentativ für das Hauptstadtberliner Denken war, und an Friedbert Meurer, dem London-Korrespondenten des DLF.
Meurer ist nur zwei Jahre jünger als ich, ungefähr zur gleichen Zeit zur Schule und Studieren gegangen. In dieser Zeit mussten wir uns unsere politische Bildung oft selbst erarbeiten, in reibendem Widerstand gegen reaktionär dominiertes Lehrpersonal. Dabei liess sich lernen, was Dialektik ist und wie in konfliktreichen Prozessen schrittweise Fortschritte erkämpft werden können (und müssen). Meurer ist mir erstmals positiv aufgefallen, als er im NDR-Medienmagazin Zapp einen kurzen, aber sehr nachdenklich wirkenden Auftritt hatte, als es um das rapide sinkende Medienvertrauen von uns als Publikum ging. Er hat selbst oft und viel Kritik für seine Berichterstattung erfahren. Ich will an dieser Stelle seine Meinungen gar nicht im Einzelnen verteidigen – ich halte ihn gefühlsmässig für einen stark gemässigten, vielleicht heimatlosen Sozialdemokraten der Mitte. Sein Wert in der heutigen Radiodebatte war nicht seine Meinung, sondern seine Haltung.
Diese Haltung schliesst den Willen und die Neugier zum Perspektivenwechsel ein. Das Verstehenwollen. Das Erklären, wie andere Denken, und wie sie dazu kommen. Das Wahrnehmen anderer sozialer Wirklichkeiten, als der eigenen. Die Bereitschaft zum Verhandeln und zum Austausch, auch des Veränderns und Bewegens der eigenen Position. Mann könnte es Journalismus nennen. Oder Politik.
Vergleichen Sie das mit dem repräsentativen Caspary-Auftritt. Der Link ist zum Nachhören; das dauert etwas. Aber dann verstehen auch Sie besser, wie Deutschland die EU zerstört.
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