“Leistungsdruck statt Lust” avancierte gestern und heute zum meistgelesenen Text des intellektuellen Nischensenders DLF-Kultur. Autor Uwe Bork (Jahrgang 1951) hat jede Menge studiert: Soziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verfassungsgeschichte, Pädagogik und Publizistik. Warum nur hat er so wenig davon zur Anwendung gebracht? Er beschreibt aktuelle Erscheinungsformen, die ich ähnlich sehe. Aber die Ökonomie lässt er weg, obwohl er sie doch auch studiert hat.
Um es besser zu begreifen, hilft ein Blick in das Avantgarde-Land von Ökonomie und Sex, Japan, weiter. Es liegt in vielerlei Hinsicht an der Spitze. Florian Coulmas, der lange für das FAZ-Feuilleton aus Japan geschrieben hat, meinte vor zwei Jahren schon in der NZZ: “Japan weist den Weg in eine beklemmende Zukunft”. Weit über eine Million Japaner*innen sollen nach diversen Schätzungen “Hikikomori” sein, Menschen, die jeden Kontakt zu anderen da draussen abgebrochen haben. Wie Coulmas beschreibt, ist Japan das Musterland neoliberaler Modernisierung des Kapitalismus, die Überalterung ist extrem, auf politische Wechsel durch Wahlen wird weitgehend verzichtet – kein Wunder, die Alten bestimmen. Und Japan ist, das sind wir wieder bei Herrn Bork, eine Hochburg florierender Pornoindustrie.
Bork will nun dem Sex wieder “neuen Wert beimessen”, wünscht sich “mehr Vertrauen und Verbindlichkeit”. Das ist exakt das optimale Rezept um das Sexleben zwischen Menschen komplett zu beerdigen. Es fehlt die Zeit. Woher nehmen? Zwar kann es sehr schön sein, wenn Sex und Liebe zusammentreffen. Wer dieses Zusammentreffen aber zur notwendigen Bedingung macht, hat die Grundlagen des Scheiterns schon gelegt.
Vorbereitung auf Medien- und Sexleben
Die neu zu uns hinzukommenden jungen Menschen haben alle Hirne voll zu tun, zu verarbeiten und die nötigen Schaltkreise zu legen, um zu verstehen, in was sie da hineingeraten sind. Sie schaffen es, schneller und besser als wir Alten. Eltern, Erzieher*innen und Lehrer*inne haben alle Mühe mitzuhalten.
Für die Vorbereitung auf das Medien- und Sexleben gilt: es ist nie zu früh. Meine Medienkompetenzbildung begann mit 5 (in etwa gleichzeitig mit der Lehre, wie ich mich allein im Strassenverkehr zur Schule bewege, über eine sehr unübersichtliche Strassenkreuzung unter einer verdunkelnden Autobahnbrücke in Gladbeck Landstrasse, ganz ohne Mama-Taxi). Lesen der Lurchi-Hefte eines Schuhherstellers, und der Schwarz-Weiss-Fernseher, den meine Eltern von meinen Grosseltern geschenkt bekamen. Mit einem Programm. Einem, nicht mehr; zum ZDF-gucken bei der WM 1966 gingen wir runter zu unseren Vermieter*inne*n. Das Wichtigste, was ich lernte, war der Unterschied zwischen Werbefernsehen (lärmend-langweilig, ausser HB) und dem Rest. Und der Unterschied zwischen Spielfilmen (=spannend) und Wirklichkeit (= langweilig). Wenn Ihr Kind mitglotzt bevor es sprechen kann, oder schon mit Smartphone oder Tablet spielt, ist der Zeitpunkt für die ersten elterlichen Aufklärungsgespräche gekommen. Sie können schon anfangen, wenn Ihr Baby noch gar nicht spricht – es versteht Sie!
Das gilt vom Ablauf auch für die sexuelle Aufklärung. Wenn Ihre Tochter den ersten Jungen aus der Schule mitbringt, ist es schon zu spät. Besser wäre, Sie hätten vorher angefangen, weit vorher. Denn auf dem Schulhof, und auch in der Kita, ist mehr bekannt, als Sie selbst kennen und wissen. Die Kinder können besser mit den neuen Geräten umgehen als Sie. Sie haben also schon viel mehr gesehen. Da hat drüber sprechen noch nie geschadet.
Eine Studie der Bundeszentrale für gesellschaftliche Aufklärung hat 2015 den damaligen Sachstand sexueller Aufklärung bei 14-17-jährigen erfasst. An einer Aktualisierung dieser Daten, die bereits eine Beschleunigung anzeigten, wird meines Wissens derzeit gearbeitet. Der Beginn der Untersuchung bei 14 Jahren ist eine Schwäche. Denn die Schulhof-“Aufklärung” beginnt bekanntlich mit 6.
Es geht immer früher los, vor allem als wir denken
Es mag sein, dass sich die meisten Kinder dann noch nicht für Pornos interessieren. Aber sie erfahren von ihrer Existenz. Und merken schnell, dass sie sich Kompetenz aneignen müssen, um mitreden, und dazugehören zu können. Pornos sind die Speerspitze des Kapitalismus in unser privates Leben, wie es die asozialen Netzwerke sind. Hier wird getestet, welche Technik funktioniert (bezeichnender Branchensprech: “Killer-Applikation”), und was Aufmerksamkeit bindet. Das wird nicht mit Umfragen erfasst, sondern mit Algorithmen und Künstlicher Intelligenz (KI), die die aufmerksamkeitsheischende Technik schneller “verbessern” als das denkende und vernunftbegabte Menschen können.
Ja, das könnte gestoppt werden. Wie der menschengemachte Klimawandel. Sie müssen nur wissen: Verbote bringen es nicht. Die erhöhen nur den Reiz und seine Wirksamkeit. Ihr Glaube, Sie könnten es zumindest Ihrem Kind verbieten, wird nur kurz leben.
Was die Kinder in Pornos sehen, bindet zwar Aufmerksamkeit. Es zeigt mehr Verschiedenheit, als im eigenen Lebensumkreis sichtbar ist. Das ist spannend. Werbung für Sex ist es eher nicht. Welcher Junge schafft einen solchen Ständer, wie die Männer in diesen Filmen? Welches Mädchen will sich so behandeln lassen, wie die meisten Frauen in diesen Werken (immerhin verdienen die besser, als die Jungs)? Da wäre es schon von grossem Vorteil, wenn die Jungen und Mädchen vorher wissen, was der Unterschied von Lebenswirklichkeit und Fantasiedarstellung ist. Und wenn sie ichstark genug sind, das im Streit mit Anderen auch argumentativ vertreten zu können – “argumentativ” heisst: zur Not auch in einer Rauferei.
Verabredet und einvernehmlich – für viele Frauen wäre das schon ein schöner Fortschritt
Das wäre schon Stress genug. In dieser Lage den Sex auch noch mit “Bedeutung” aufzuladen, das ist schon den Kirchen misslungen, die jahrhundertelang Sex mit Kinderzeugung zwangsvereinigen wollten. Ihre Niederlage ist noch jung, sie datiert im vorigen Jahrhundert. Und auch noch nicht überall auf der Welt. Aussichtslos ist es dennoch. Wenn wir nun die zur Verfügung stehenden Aufmerksamkeitpotenziale in den reichen Ländern sehen: wo soll dort noch Platz für die Liebe sein? Verabredeter, einvernehmlicher Sex wäre gegenüber der schnöden Wirklichkeit doch schon ein schöner Fortschritt. Er ist auch hierzulande noch längst nicht überall angekommen. Er ist immer leichter realisierbar, ein paar mal wischen auf dem Smartphone, fertig. Frauen ernstnehmen? Werben? Flirten? Spannung und Lust langsam aufbauen? Keine Zeit! Viele Männer haben damit ein Problem. Denn viele Frauen wünschen das. Das eine oder andere komplizierte Gespräch ist unvermeidlich, um “zum Ziel” zu kommen. Viele scheitern daran. Nicht wenige werden wütend, werden gewalttätig und/oder wählen falsch.
Systemgefährdend: Zeit und Lust
Alle Untersuchungen zeigen: Sex allein ist schon schwierig, jedenfalls wenn er keine Leistung, sondern schön und lustvoll sein soll. Lust ist weder leistungs- noch kapitalismuskompatibel. Breitet sie sich zu sehr aus, wird sie ein Problem für das System. Und ich gestehe: da wäre ich für! Das gilt für die Liebe genau so. Beide zwangszuvereinigen wird zwar immer noch oft versucht, aber immer mehr scheitern daran – so entstanden die Lebensabschnittsgefährt*inn*en. Warum also, was das Private, Persönliche betrifft, nicht eins nach dem Andern ausprobieren, statt alles auf einmal? Auch das erfordert Zeit. Um sie zu kämpfen kann ein menschliches Leben aus- und erfüllen.
Politik wäre erforderlich. Medienregulierung. Verteidigung von privatem Datenbesitz, Enteignung privater Datenschätze, Übernahme und Kontrolle – oder mindestens Zerschlagung – privater Netzwerkmonopole. Eine technik- und medienkompetente Aussenpolitik, die das auf dem Schirm hat, und mit möglichst vielen Anderen auf der Welt dabei kooperieren will – nur dann ist politische Kontrolle möglich. Plus Verteidigung unserer Zeit vor ihrer immer willkürlicheren Nutzung durch das Kapital. Ein weites Feld. Und es wird hart.
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