von Günter Bannas
Hätte Willy Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts zum Bundeskanzler aufsteigen oder auch nur SPD-Vorsitzender bleiben können? Wäre Helmut Kohl, einst Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, von seiner Partei, der CDU, im Amt des Parteichefs gelassen worden, wenn er seine politische Karriere nicht in den späten 1960er-Jahren, sondern 50 Jahre später begonnen hätte? Die These sei gewagt: Brandt wäre nicht zur Ikone der deutschen Sozialdemokratie geworden und Kohl auch nicht Kanzler der deutschen Einheit. In Zeiten von Twitter, Instagram und anderen sozialen Medien hätten sie keine Chance gehabt. Brandt hatte als Kanzlerkandidat der SPD zwei Bundestagswahlen verloren – 1961 gegen den längst umstrittenen Uraltkanzler Konrad Adenauer und 1965 gegen den aus der Zeit gefallenen Ludwig Erhard. Kohl wiederum hatte 1976 sein Ziel, die CDU an die Regierung zu bringen, nicht erreicht. Als Oppositionsführer im Bundestag galt er vielen als Tölpel pfälzischer Provenienz. Er sagte „Familje“ statt „Familie“, und in manchen Medien wurde er als „Birne“ verhöhnt, die nicht weiter ernst zu nehmen sei. Von Franz Josef Strauß aus der CSU auch. Doch ihre Parteien gaben den beiden eine zweite und gar dritte Chance, das Vertrauen der Bürger zu erwerben und zum Großpolitiker aufzusteigen.
Die Zeiten haben sich gewandelt und die Menschen in ihnen auch. Alles ist schnelllebiger. Von Rücksicht, Nachsicht und Verständnis keine Spur. Wer heute oben ist, liegt morgen am Boden und ist übermorgen vergessen. Die parteiinternen Auseinandersetzungen und der Streit zwischen den Parteien waren auch ehedem hart und heftig. Doch waren sie nicht so gnadenlos wie derzeit. Die sogenannten sozialen Medien sind eine weitgehend humorfreie Zone. Ein falsches Wort – und schon ergießt sich ein Schwall von Häme, boshaftem Spott bis hin zum Hass über die Betreffenden. Die Leute an der Spitze der Politik müssen „liefern“ – und zwar sofort. Manch eine(r) will sich dem nicht (mehr) aussetzen. Viele waren an dieser fatalen Entwicklung beteiligt – in der Politik und in Medien aller Art. Ohne es recht zu bemerken, sind Wähler und Akteure – Schritt für Schritt – in ein neues Zeitalter geraten. Die Revolution fand schleichend statt. Der Niedergang der Volksparteien ist Ursache und Zeichen zugleich. „Wehe den Besiegten“ ist das neue Motto der Politik.
Günter Bannas ist Kolumnist des HAUPTSTADTBRIEFS. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “DER HAUPTSTADTBRIEF AM SONNTAG in der Berliner Morgenpost”, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
Lesen (oder hören) Sie zum gleichen Thema auch diesen Essay von Florian Felix Weyh von 2016 “DigiKant oder: Vier Fragen neu gestellt”, den der Deutschlandfunk heute wiederholte.
Es war bezeichnenderweise der Vorsitzende des Tiefpunktes der FDP, Phillipp Rösler, der das Bild vom “Liefern” erfand – was den unvergeßliche Dieter Hildebrandt zur Replik brachte: Was? warum? Ich habe nichts bestellt! Schon gar nicht bei der FDP! Aber wie wahr ist doch die Erkenntnis, dass Inhalte der Antrieb von Politik sein müssen. Ziele, aber nicht das kleinklein von “Gute Kita”-Gesetzen und Regierungsprogrammen. Einen Menschen auf den Mond und sicher zurück zu bringen zum Beispiel. Das Abtauen der Gletscher zu stoppen zum Beispiel. Den unersättlichen Reichtum Einzelner zu begrenzen und dafür mehr Gerechtigkeit zu schaffen zum Beispiel. Dem ungehinderten Manipulationsapparat (a)sozialer Medien demokratische Grenzen zu setzen zum Beispiel.