von Informationsstelle Lateinamerika in Bonn
Wer hätte vor Jahresfrist gedacht, dass die Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und vier Mercosurländern im 20. Jahr an Fahrt aufnehmen und zum Abschluss kommen würden? Wer, dass das politische Schmuddelkind, der derzeitige Präsident Brasiliens, darin eine herausragende Rolle spielen würde? Wer, dass die eingeschlafene Anti-TTIP- und Anti-CETA-Bewegung plötzlich aufwacht und dagegen mobil macht? Wer, dass es – man möchte sagen: wörtlich – brenzlig würde für die Ratifizierung, da Regierungen und Parlamente in der EU beginnen, diese abzulehnen. Wohl kaum jemand, aber es ist alles so gekommen. Die Brände in Amazonien haben sicher viel damit zu tun.
Widersprüche gegen die Vorstellungen der EU für ein solches Abkommen gab es von Anfang an. Zuerst hatte die liberale brasilianische Regierung von Fernando Henrique Cardoso Anfang der 2000er-Jahre auf die Bremse getreten, weil sie auf der europäischen Seite wenig Bereitschaft sah, die brasilianischen Interessen angemessen zu berücksichtigen. Diese Linie übernahmen auch die späteren sozialdemokratischen Regierungen von Lula da Silva und Dilma Rousseff. Ähnliche Positionen vertraten die argentinischen Regierungen von Fernando de la Rua, Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner.
Es brauchte erst die Regierungswechsel hin zu Mauricio Macri in Argentinien und Jair Bolsonaro in Brasilien, um die Verhandlungen zu forcieren und schließlich zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen, was am 28. Juni dieses Jahres mit einem 17-seitigen „Prinzipiellen Abkommen“ im japanischen Osaka am Rande des G20-Gipfels von Macri, Bolsonaro und Vertreter*innen der Europäischen Union gefeiert wurde.
Großgrundbesitzeroligarchie und Agrobusiness dominieren
Aber anders als ihre Vorgänger vertreten Macri und Bolsonaro in Wirtschaftsfragen fast ausschließlich die Interessen der Großgrundbesitzeroligarchie und des Agrobusiness. Und diesen Sektoren sind traditionell die Interessen der übrigen Wirtschaftszweige weitgehend und die sozialen Belange der Bevölkerung vollkommen gleichgültig, wenn sie nur ihre Produkte gut verkaufen können.
Die europäische Seite redet gerne von Demokratie, Kooperation und gemeinsamer Verantwortung, „vergisst“ aber in allen Verhandlungen für Assoziationsabkommen ihre Sonntagsreden und sucht in erster Linie die Interessen der europäischen Großunternehmen der Automobil-, Chemie-, Pharma-, Maschinenbau und Lebensmittelindustrie sowie der Banken, Versicherungen und der Finanzbranche im Allgemeinen durchzusetzen. Laut ständigem Bekunden der EU hat das „Assoziationsabkommen“ neben dem Freihandelsteil auch zwei Abkommensteile über Politischen Dialog und Entwicklungskooperation. Darüber ist aber überhaupt nichts bekannt außer dem kürzlich geleakten Auftrag im vor 20 Jahren erteilten Verhandlungsmandat.
So kann es eigentlich kaum verwundern, dass das ausgehandelte Abkommen so ist, wie es ist. Soziale und ökologische Aspekte kommen bestenfalls als nicht-verpflichtende Absichtserklärungen vor, die juristisch harten Handelskapitel werden hüben wie drüben zu mehr Umweltzerstörung führen, soziale Standards eher absenken denn erhöhen und selbst bescheidene Fortschritte im Klimaschutz konterkarieren.
Überall wächst Widerstand heran
Es tut also Not, gegen dieses Abkommen aktiv zu werden. In Argentinien gibt es bereits eine breite Opposition dagegen, in Brasilien unternimmt Bolsonaro – wenn auch unbeabsichtigt – alles erdenklich Mögliche, um den Widerstand zu einen und zu stärken. Auch in Europa tut sich einiges: In der Bundesrepublik kommt aus Umweltverbänden, bäuerlichen Gruppen und entwicklungspolitischen Organisationen deutliche Kritik, auch aus den Gewerkschaften sind ablehnende Stimmen zu hören.
In unseren Nachbarländern haben die Kritiker*innen bereits erste Erfolge erzielt. In Österreich hat der EU-Unterausschuss des Nationalrats (Parlament) die gegenwärtige und künftige Regierung darauf verpflichtet, dem Abkommen in den EU-Gremien nicht zuzustimmen. Der Beschluss kann nur geändert werden, wenn dafür im neu gewählten Parlament eine Mehrheit zusammenkommt. Luxemburgs Regierung hat gerade eine mögliche Ablehnung angekündigt. In der Schweiz, die als Teil der Europäischen Freihandelsvereinigung EFTA im August ebenfalls ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur vereinbart hat, haben innerhalb von vier Tagen mehr als 65 000 Bürger*innen mit ihrer Unterschrift dagegen protestiert. Da in der Schweiz die Hürden für die Durchsetzung einer Volksabstimmung vergleichsweise niedrig sind (50 000 offizielle Unterschriften), ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass diese Bewegung ein Plebiszit anstreben und durchsetzen wird, damit es zu einer breiten öffentlichen Debatte und – hoffentlich – zu einer Ablehnung des Mercosur-EFTA-Abkommens kommt.
Als Zeitschrift, die seit mehr als vier Jahrzehnten zu Lateinamerika berichtet und sich dabei den Menschenrechten, der sozialen Gerechtigkeit, dem Umweltschutz und dem Kampf gegen neokoloniale Strukturen verpflichtet sieht, wollen wir unsere Erfahrungen, Kontakte und Kompetenzen einbringen, um die Opposition gegen das Abkommen zu unterstützen. Das vorliegende Heft, das Analysen und kritische Stimmen aus Lateinamerika und Europa zusammenbringt, ist dafür ein erster Schritt.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme (das Vorwort) aus ila 429 Okt. 2019, hrg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika (ila) in Bonn.
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