Ich habe auch eins. Mein Provider wollte mich kürzlich für tot erklären, weil ich es so wenig benutze, und forderte mich ultimativ auf, mein unverbrauchtes Prepaid-Guthaben aufzuladen. Die Überwachungsalgorithmen denken immer, ich sässe alleine und trostlos zuhause, weil es vergessen am Ladekabel auf meiner Sofalehne liegenbleibt. Beim Abendessen mit schönen Frauen würde es nur stören. Ebenso bei politischen Versammlungen, oder anderen subversiven Aktivitäten.
Das das kleine Ding jetzt an allem schuld sein soll – herrjeh, wenn Zeitungen mit vielen Bildern und wenig Buchstaben das behaupten, ist es wie ein Sack Reis in China. Aber wenn es ein über Jahrzehnte bei mir gut angesehener Essayist wie Nils Minkmar behauptet, dann muss auch bei ihm im Verstand ein Sack Reis umgekippt sein. Womöglich ist es die in seiner Karriere bisher bestbezahlte Tätigkeit beim Spiegel, die seiner Hirntätigkeit mehr schadet, als es ein Smartphone kann.
Räumen wir zunächst mal die Fakten seines Beispiels beiseite. Die des Macron-nahen und daher aussichtslosen Bürgermeisterbewerbers in Paris. Also wenn Sie wüssten, was ich über die Bonner Grünen-Kandidatin weiss …. 😉 Aber das ist sicher nichts gegen einstürzende städtische Gebäude, die sie dann im Amt alle wegräumen muss. Zu Paris gibt es auch eine Beschreibung von Thomas Pany/telepolis, mit weniger Meinung und mehr Information.
Sie lässt erkennen, dass das ganze Elend, das laut Minkmar Smartphone und Digitalisierung über die Welt ausgeschüttet haben, alles auch vorher schon da war. Mobbing in Schule und Betrieb, intrigante Seilschaften in Parteien und Verbänden, Gewalt und Denunziation gegen Politiker*innen, Bigotterie, Lug und Trug, Veruntreuung und Diebstahl, Mord und Totschlag – sogar ausser Rand und Band geratene Baukosten. Das einzige was sich geändert hat, und hier ist die Digitalisierung nicht Ursache sondern Symptom, ist, dass wir erstens mehr davon mitbekommen (können oder müssen, wie Sie wollen), und zweitens sich die Geschwindigkeit von allem beschleunigt. Das ist das brave Befolgen eines Prinzips des bei uns herrschenden Kapitalismus: Wachstum durch erhöhte=beschleunigte Kapitalzirkulation. Exakt davon ist die Digitalisierung ein folgerichtiger Ausfluss, “Produktivitätszuwachs” nennen das die Fachleute. Dass Sie und ich das subjektiv ganz anders bewerten, interessiert nicht. Der Clou daran ist nicht seine moralische Verkommenheit, sondern dass der daraus erwachsende Profit noch weniger Milliardären zugute kommt, als es die “alte” Industrialisierung zu Marxens Zeit getan hat, und diese Milliardär*inn*e*n über mehr Macht verfügen, als die meisten Staatsführungen, von Kommunen, ob Paris oder Bonn, ganz zu schweigen. Smartphone und Demokratie gingen theoretisch zusammen, dieser Turbokapitalismus und Demokratie dagegen nicht.
Gab es nicht mal Zeiten, in denen selbst Herr Minkmar das gewusst hat? Wohin ist es verschwunden?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net