Es lag Logik darin, dass Christo mit dem Reichstag-Projekt ein ästhetisches Ende zum Kalten Krieg setzte. Nachruf auf einen komplexen Künstler.
Steif sitzt der damalige Bundestagspräsident und spätere Bundespräsident Karl Carstens in einem Schalensessel. Es ist der 20. Januar 1977 im damaligen Regierungssitz Bonn. Der konservative CDU-Politiker hat die buschigen Augenbrauen hochgezogen. Die Körpersprache, mit der der Deutschnationale sein Gegenüber betrachtet, spricht Bände.

Wild gestikuliert der Künstler Christo, malt imaginäre Größenmaße in die Luft. Er wirbt für sein Reichstag-Projekt. Obwohl privat fasziniert davon, lehnte Carstens es ab. Zwölf Jahre vor dem Mauerfall fürchtete der Scharfmacher gegen die sozialliberale Entspannungspolitik Ärger mit dem Osten.

Carstens’ Sinneswandel drei Jahre später wurde zum Schleusenöffner für das konservative Lager. Wolfgang Schäuble, einer ihrer Wortführer, hatte das Projekt in einer berüchtigten Rede 1994 noch abgeschmettert. Unter dem Eindruck des verhüllten Reichstages ein Jahr später änderte er seine Meinung. Nach Christos Tod pries der jetzige Bundestagspräsident seinen einstigen Widersacher gestern als „Visionär“ und „Ausnahmekünstler“.

Ganz zu Recht. Denn die Kunst des 1935 im bulgarischen Gabrowo geborenen Christo Vladimirow Javacheff ist das faszinierende Beispiel einer ästhetischen Ost-West-Konversion. Seine Mutter war sozialistische Revolutionärin, sein Vater in Bulgarien als Kapitalist verfolgter Chemieunternehmer. In dieser familiären Mischung waren die Eigenschaften angelegt, die ihm nach seiner Flucht in den Westen 1956 zum Erfolg führten: Überzeugung plus Marktfähigkeit.

Als Student der Kunstakademie Sofia musste Christo in den Semesterferien Landwirten beibringen, Traktoren und Heuhaufen an den Berghängen, zwischen denen der Orient-Express hindurch brauste, effektvoll zu drapieren. Den Fahrgästen aus dem Westen waren blühende sozialistische Landschaften zu suggerieren.

Die gleiche Fähigkeit, mit der Christo in Bulgarient den Mangelkern des Systems verhüllen sollte, wendete er später im Westen zu dessen Enthüllung an

Die gleiche Fähigkeit, mit der er dort den Mangelkern des Systems verhüllen sollte, wendete er später im Westen zu dessen Enthüllung an. Wo wäre diese utopisch-kritisch gewendete Kunst des Agit-Drap, also des agitierenden Verhüllens, besser angewandt gewesen als beim Berliner Reichstag? 50 Jahre hatte das rußige, zerbombte Gemäuer die Schnittstelle zweier Welten markiert.

Es lohnt, sich in der Rückblende noch einmal das Bild der über 200 rostigen Fässer vor Augen führen, mit denen Christo und Jeanne Claude am 27. Juni 1962 für acht Stunden die Pariser Rue Visconti blockierten. Nach seiner Flucht lebte er seit 1958 in der französischen Hauptstadt. Dort hatte er im selben Jahr seine Frau Jeanne-Claude, eine Generalstochter, kennengelernt. Die Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang holten sie in ihrem ersten gemeinsamen Projekt symbolisch mitten in den Westen. Zwei Jahre später zogen sie nach New York.

Es lag also eine Logik darin, dass sie mit dem Reichstag-Projekt auch den ästhetischen Schlussstein der Kalte-Kriegs- Epoche setzten. Mit zäher Überzeugungsarbeit für die Idee überwanden sie die tiefsitzenden, nationalen Vorbehalte der Deutschen. Ihre Kunst erkämpfte, was man eigentlich von der Politik erwartet hätte: einen Moment entspannten, kollektiven Nachdenkens, einen kleinen Sieg der Deutschen über sich selbst, immerhin für 14 Tage.

Innere Kontur und demokratische Potentiale ästhetisch erschließen – das ließe sich überhaupt als der Kern von Christo und Jeanne Claudes Kunst identifizieren. Ihr Oeuvre zeigt, dass Ästhetik darin exemplarisch sein kann, worin Politik häufig versagt: im Entwerfen, Skizzieren und Legen von Projekten für die Zukunft, in der Hartnäckigkeit, mit der sie sie verfolgt, der ernst gemeinten Gesprächsbereitschaft. Nie beugt sie sich irgendeiner Lobby. Alle Projekte finanzierten die Künstler aus eigener Tasche.

Christo begann, ohne ästhetische Hierarchie Gegenstände des täglichen Lebens wie Sessel, Haushaltsgeräte oder Zeitungen zu verpacken und zu verschnüren

Zu Beginn seiner Pariser Jahre hatte Christo eine Art Objektdemokratie entwickelt. Das Mitglied der Bewegung des „Nouveau Réalisme“ begann, ohne ästhetische Hierarchie Gegenstände des täglichen Lebens wie Sessel, Haushaltsgeräte oder Zeitungen zu verpacken und zu verschnüren.

Daraus entwickelte er später gigantische, oft reichlich cleane Projekte einer Alltagsdemokratie. Mittels der goldglänzenden Stoffbahnen um die Pont-Neuf-Brücke nahmen die Pariser ein geschichtsträchtiges Symbol neu in Besitz. Gegner der Bannmeilen-Mentalität der Regierungen dieser Welt erinnern sich noch heute verzückt an diesen unwiederholbaren Moment.

Es gehört zu dem Doppelcharakter von Christo und Jeanne-Claudes Kunst, dass sie integriert wie polarisiert. Das Projekt der rosa umstofften Inseln im Millionärs- und Rentnerparadies Miami 1983 musste er gegen das betuchte Bürgertum vor Ort durchdrücken.

Es gibt ein markantes Foto, das Christo und seine Frau Jeanne Claude im Parka zeigt, über Land zum japanisch-kalifornischen Schirmprojekt „The Umbrellas“ 1991 strebend. Die Aufnahme zeigt die Demokraten der Zukunft als ästhetischen Citoyen. Mit Papierrollen und Zeichenstab vermessen sie neues Terrain, fordern die Wahrnehmung heraus. Sie sind nicht an einen Ort gebunden, wissen, dass ihre Projekte vergänglich sind, wollen keine feststehende Utopie gnadenlos exekutieren.

Seine großflächigen, den Propaganda-Techniken des Sozialismus abgeschauten, imaginären Landschaften schreiben ihren Betrachtern nie irgendeinen Inhalt vor

Sie wächst stattdessen organisch, kooperativ, nichtlinear. Sie ist nach vorne offen, verhandelbar, denkt global und handelt lokal. So umsichtig, wie das Künstlerpaar bei allen Projekten mit Ökologie und dem sozialen Kontext umging, war ihr work in process ein Gegenentwurf zu der organisierten Unverantwortlichkeit der Risikogesellschaft.

Zugleich schrieben diese großflächigen, den Propaganda-Techniken des Sozialismus abgeschauten, imaginären Landschaften ihren Betrachtern nie irgendeinen Inhalt vor. Jeder konnte auf die Stoffflächen projizieren, was er wollte. Bei seinem letzten Projekt „Floating Piers“ konnten die Besucher vor vier Jahren sogar wie Jesus über das Wasser des Iseo-Sees in Norditalien wandeln.

Demokratischer Faltenwurf oder apollinische Offenbarung der Schönheit. Wie auch immer man Christo und Jeanne-Claudes Kunst interpretiert, vor allem erreichten sie damit die Autonomiebildung der Betrachter. Welche Fähigkeit könnte demokratischer sein?

Vergangenen Sonntag starb der 17 Jahre lang staatenlose Künstler 84-jährig in seinem Haus in der Howard Street in Manhattan, knapp elf Jahre nach seiner Frau Jeanne-Claude. Die für den Herbst 2021 geplante Verhüllung des Arc de Triomphe in der Stadt seiner Anfänge bleibt nun unvollendet.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).