Für das westfälische Rotbäckchen aus Lippstadt sind sie Abschaum, “das hässliche Gesicht” des Fußballs. Sein Glück, dass in Deutschland Meinungsfreiheit herrscht, in der jede*r das Recht hat, Unsinn zu verbreiten. In Wahrheit ist es umgekehrt. Schon bei den Geziprotesten 2013 in der Türkei waren es die Ultras der Istanbuler Vereine Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray, die gemeinsam die türkische Demokratie gegen das Erdogan-Regime verteidigten. Danach intensivierte das Regime sein politisches Engagement für den Istanbuler Stadtteilverein Başakşehir, der nun als Serienmeister vorgesehen ist, wie es in Deutschland, Frankreich oder Italien auch Unsitte des Fußballbusiness ist. Was lehrt uns das? Das Erdogan-Regime hat die gesellschaftliche Bedeutung der Fanszene begriffen, und versucht sie darum seinerseits nun zu infiltrieren.
In der Coronakrise hat sich auch in Deutschland erwiesen, dass es die Ultrafans sind, die als Letzte noch alle Tassen im Schrank haben. Das Business hat Panik abzusaufen, und lobbyiert mit allen Mitteln, die es hat, die Politik, um erlaubt zu bekommen, das Kaptalrad weiterzudrehen. Hat ja auch geklappt.
Während wir hierzulande dank einer funktionierenden Krankenversicherung um eine Corona-Katastrophe herumgekommen sind, war und ist es in anderen Ländern anders. Italien, Spanien und Grossbritannien hoffen das Schlimmste hinter sich zu haben. Die USA und Brasilien sind mittendrin. Ihre politischen Grüssaugusts, ausgeprägt hässliche Gesichter der rechtsextremen Herrschaftsform des Kapitalismus, erweisen sich als führungs- und herrschaftsunfähig. Ihre Bewältigungsstrategien, Überlebensstrategien für ihr despotisches Regime, sind, wie beim Fußballbusiness, von Panik geprägt. Ausser bei den Ultras. Auch in Brasilien erweisen sie sich als politischer und organisatorischer Kern von politischer Vernunft. Was soll nur aus den Restbeständen der Demokratie werden, wenn sie nicht mitmachen würden?

Zeichen an der Wand

Covid-19 wird, das weiss jedes Kind, nicht das letzte Virus sein, das die Menschheit beschäftigt. In der gegenwärtigen Form globalen Wirtschaftens stehen die nächsten schon Schlange. Das ist kein Grund zur Panik, eher zu beschleunigtem Nachdenken und zur Radikalisierung politischer Diskurse.
Neben den Viren, die kurz vor dem Schlüpfen aus einem menschengemachten Brutkasten sind, erwartet die Welt ausserdem die nächste Weltmacht: China, der lebende Beweis, dass ein “Ende der Geschichte” nach der Zerlegung der Sowjetunion nicht erreicht wurde, sondern vermutlich ein heftiges, herrschbegieriges Gegenteil. Mark Siemons/FAS weiss wenigstens, wovon er in diesem Zusammenhang schreibt. Dass er Denktraditionen des deutschen Carl Schmitt ausgerechnet im mächtigsten “Sozialismus” der Welt wiederentdeckt, könnte mehr an ihm und seinem Denken, als an der Sache selbst liegen. Ich vermute einen Kunstgriff, um deutscher Öffentlichkeit kompliziertere Zusammenhänge verständlich zu machen. Und ja: mich zu beunruhigen hat auf diese Weise gut funktioniert.
Sind die postsozialistischen Systeme die neue Avantgarde der kapitalistischen Entwicklung? Das wäre der Wunsch der Rechten, und sie sind weit vorangekommen. Die Linke muss eine Alternative dagegensetzen. Und die Liberalen müssen dabei mitmachen, damit es kein Unsinn wird.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net