Die Virologen sind wieder auf den Fernsehbildschirmen. Sie warnen und melden sich zu Wort, weil die Zahlen deutlich ansteigen. Nein, 800 bis 900 Neuinfektionen pro Tag sind noch keine 6.251 des 2.April 2020. Aber damals hatten noch viele keine Masken, waren Desinfektionsmittel Mangelware, waren die Lockdown-Massnahmen erst wenige Tage alt. Wer in den letzten Tagen die Bilder deutscher Innenstädte, Fluß- und Seeufer gesehen hat, wer weiss, was auf “Malle” und anderswo stattfindet wo vor allen Dingen Jung, aber auch Alt am Wolfgangssee sich benehmen, als habe es das Corona-Virus nie gegeben, den muss es gruseln vor Unvernunft und Sorglosigkeit.

Ich bin weder Virologe, noch Gesundheitspolitiker, aber ich biete eine Wette an: Der erneute Ausbruch des Virus, der weit über die Pandemie im März hinausgeht, steht vor der Tür. Es wird sich im September oder Oktober  ausbreiten und schließlich zu vielen lokalen Lockdowns und jeder Menge Schulschliessungen führen.

Was sind die Indikatoren?

Das nachlassende Versagen derselben Politik, die im Frühjahr die Krise vorbildlich gemeistert hat. Rückblick: Mit der Ministerpräsidentenkonferenz, die sich darauf einigte, die Verantwortung für Lockdowns auf die Städte und Landkreise zurück zu delegieren, hat die Politik die Steuerung der Krise praktisch aus der Hand gegeben. Denn das, was bei Schweine-Tönnies passiert ist, bei den Bornheimer Spargelstechern oder bundesweit in Massenunterkünften von Flüchtlingen, allen voran den Seehoferschen “Ankerzentren”, hat Ursachen, die weit über die Kompetenzen von Landräten oder Gesundheitsämtern hinausgehen. Sie sind systembedingt, fordern rechtliche Konsequenzen und zwar sofort. Bis auf die Gesetzesinitiative vo nArbeitsminister Heil, der die Leiharbeitsverhältnisse in der Schlachtbranche verbieten will, hat sich nichts geändert. Weder für Erntearbeiter, die unter Mindestlohn in Intensivhaltung untergebracht sind, noch für Billiglöhner am Bau noch für die vielen Spüler, Beiköche, Kellner in der Gastronomie wurde wirklich etwas verändert. Die systemischen Ursachen wurden bisher nicht angegangen, sie bilden weiter wichtige Gefahrenherde.

Urlaub verpennt

Die völlige Untätigkeit einiger Gesundheitsminister*innen angesichts der Urlaubssaison. Beginnend bei den Airlines: Während selbst in den Corona-ignoranten USA die Airlines die B und E-Sitze der Reihen leer lassen, pferchen Lufthansa und Co. aufgrund gewagter Einschätzungen, die einen theoretischen, aber real nicht vorhandenen vertikalen Luftstrom in der Passagierkabine postulieren, in vollen Fliegern Rückreisende aus Suff- und Feiergebieten, aus Krisenregionen und unbedarfte ältere Reisende dicht an dicht zusammen. Erst als die ersten Rückreisenden längst wieder die Flughäfen in Düsseldorf, Frankfurt, Köln, München und Berlin unkontrolliert passiert hatten, kam die Gesundheitsministerkonferenz auf die Idee, man könne ja mal über das Problem möglicher Infektionen nachdenken. Tests am Flughafen oder zu Hause, Quarantäne oder nicht – es herrscht Chaos, es gibt kein einheitliches, verbindliches Vorgehen. Interessant, dass die bisher an Flughäfen festgestellten Corona-Infizierten nicht vornehmlich aus “Risikoländern” stammten, sondern als nicht besonders belastet geltenden Ländern der EU.

Seit der Erklärung der Zuständigkeit der Regionen herrscht Konzeptionslosigkeit

Auslandsreisen per Bus, Bahn, PKW, die ersten Kreuzfahrten – all diese Reisewege liegen weit unter dem Radar der Gesundheitsüberwachung, in all diesen Fällen ist eine Nachverfolgung von Infektionen praktisch unmöglich. Auch hier erfolgten erste Diskussionen erst zwei Wochen vor Öffnung von Kitas und Schulen in den ersten Bundesländern, in denen die Ferien zuende gehen. Warum, so muss doch gefragt werden, haben die Gesundheitsbehörden im Vorfeld versäumt, die Urlauber welcher Provinienz auch immer im Vorfeld auf die Verhaltensregeln aufmerksam zu machen? Warum wurden nicht  vor der Urlaubssaison unter den Bundesländern die Fragen geklärt, die jetzt gerade die öffentliche Diskussion beherrschen: Ob und wo wer getestet wird und wer es bezahlt?

Schulen nach wie vor komplett unvorbereitet 

Die Öffnung der Schulen und der von allen Bundesländern propagierte “Normalunterricht” ist unverantwortlich. Ob die Einteilung der Schüler*innen in feste Gruppen, die zu unterschiedlichen Zeiten unterrichtet werden, eine Chance hat, ist völlig offen. Laut der Gewerkschaften fehlen hierfür eine Hälfte der Lehrer*innen. In allen Bundesländern fehlen bei 60-75% der Schulen und Lehrer*innen die notwendigen IT- und Datenschutzkenntnisse, um Online-Unterricht durchführen zu können. Dass es die Bundesländer versäumt haben, die über 60jährigen Lehrer*innen gerade in diesem Bereich in den Sommerferien besonders weiter zu bilden, damit sie sich als Risokogruppe zur Not auf virtuellen Unterricht beschränken können, ist eins der gravierendsten Versäumnisse nahezu aller Schulministerien der Länder. Niemand berät Lehrer*innen über bereits vorhandene Open-Source Curricula oder Lernmaterialien für einen erfolgreichen Digitalunterricht. Konzepte zum Datenschutz, wie die des Chaos Computer CLub, Digitalcourage oder des Bundesverbandes der betrieblichen Datenschutzbeauftragten sind an den Schulen kaum bekannt. Es gibt keine Beratungs- oder Servicestellen für Schulen, wo sie sich zur Umsetzung des Digitalpakts beraten lassen können. Es sind immer noch nach 1 1/2 Jahren keine 100 Millionen von 5 Milliarden € Mitteln aus dem Digitalpakt abgerufen worden.

Kita-Schließungen zulasten der Frauen

Die bisherigen Konzepte der Familienministerien der Länder sehen vor, dass Kita-Kinder beim kleinsten Schnupfen oder Husten nach Hause geschickt werden. Diese Praxis gefährdet – jenseits der medizinischen Tauglichkeit – massiv die Arbeitsmöglichkeiten alleinerziehender Menschen und trifft vorwiegend Frauen. Wo sind da die Testkonzepte? Bereits angesichts der zu erwartenden und bevorstehenden klimabedingten Anstiege der Corona-Fallzahlen in Herbst und Winter ist mit einem drastischen Einbruch bei der Erwerbsarbeit dieses Personenkreises zu rechnen. Dies wird noch weit übertroffen angesichts der durch Fahrlässigkeit, nachlassender Wachsamkeit und Sorglosigkeit “on Top” zu erwartenden Fallzahlen. Mit dieser Planlosigkeit korrespondieren die von Geschäftsinteressen beherrschten Lebensbereiche Fußball, Olympia, ebenso wie alle wenig kommerziellen Hallensportarten Volleyball, Basketball, Eishockey, etc., für die es noch keine Lösungen gibt.

Störfeuer und Verwirrung durch Populisten

Die Politik von den Populisten Trump, Johnson, Putin und Co. bis zu seriösen EU-Politiker*innen Macron und Merkel sowie den Chinesen baut auf der Illusion, es gebe in absehbarer Zeit einen Impfstoff gegen der “Corona”-Virus. Obwohl allgemein bekannt ist, dass es bis heute keinen Impfstoff gegen das HIV-Virus gibt, existiert offensichtlich bei den autoritär Herrschenden ebenso wie den Demokraten keine Kommunikationsstrategie für den Fall, dass es trotz Milliardeninvestitionen in einem Jahr oder später keinen Impfstoff geben wird. Schlimmer: Putin lässt in der deutschen Community russischer Abstammung etwa kommunizieren, im Herbst schon gebe es einen Impfstoff. Das nährt die Illusion bei der Mehrheit von Menschen, dass es in absehbarer Zeit eine Rückkehr zum “Normalzustand” vor der Pandemie geben könnte. Was aber, wenn das dauerhaft gar nicht der Fall sein kann?

Verantwortung und Solidarität sind alternativlos

Corona ist in der Welt, es ist real und hier. Das Virus ist nicht besiegt, es ist in Deutschland nur zurückgedrängt und wird jede Chance nutzen, um wieder die Oberhand zu gewinnen. Sommerhitze und niedrige Luftfeuchtigkeit halten es im Zaum – nicht mehr lange. In einigen Urlaubsgebieten in Spanien werden schon wieder Warnungen veröffentlicht. So bahnt sich im Herbst eine wichtige Diskussion an: Die nach der Verantwortlichkeit eines jeden und möglicher Schuld an der Infektion eines Risikopatienten im eigenen Umfeld. Die Generation “Smartphone-Konsum-Feiern-alles andere-geht-mir-am-Arsch-vorbei” wird unerwartet mit der Frage nach der eigenen Verantwortung für den nächsten pandemischen Corona-Ausbruch konfrontiert werden. Das ist gut so. Denn nicht Regierungen und Gesundheitsämter entscheiden über die Ausbreitung des Virus, sondern einzig und allein die einsichtigen oder ignoranten Bürgerinnen und Bürger, die, die Abstand halten oder die, die das Virus geradezu einladen.

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net