Die FDP schrumpft. Erstaunlicher als dieser Prozess ist das Tempo, in dem er sich vollzieht. 2017 kehrte die Partei nach vierjähriger Pause in den Bundestag zurück – mit einem zweistelligen Ergebnis. Sie wurde vierte Kraft, deutlich vor der Linken und den Grünen. Seither hat sich die FDP in den Umfragen mehr als halbiert. 2021 könnte sie erneut aus den Bundestag fliegen. Zu verantworten hat diesen rapiden Verfall ihr Vorsitzender Lindner.

Zwei Kardinalfehler

Vor der Wahl machte er vieles richtig, nach der Wahl vieles falsch. Er unterließ, was er hätte tun sollen, und tat, was er hätte lassen sollen. Nun gut: Jeder Politiker macht Fehler. Doch bei Lindner häufen sie sich. Beim Blick auf ihn begreift man, wie weise es war, Moses zu verwehren, das Gelobte Land zu betreten. Diese Entscheidung bewahrte ihn, dort Fehler zu begehen, die seine Leistungen auf dem 40 Jahre langen Marsch durch die Wüste überschattet hätten.

Der FDP-Chef hatte nicht so viel Glück. Er nahm 2017 im Bundestag Platz. Unter Lindners Fehlleistungen stechen seither zwei Kardinalfehler hervor. Der erste: 2018 raubte er der FDP die Chance, mit der Union und den Grünen zu regieren. Beide waren aus der Wahl geschwächt hervorgegangen. Doch Wahlsieger Lindner traute sich nicht, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er nahm der FDP die Möglichkeit, das Land zu gestalten und sich darüber zu entfalten.

Der zweite Kardinalfehler: Wie die CSU-Politiker Seehofer und Söder unterschätzte er Merkel. Er hängte sich an die CSU-Bosse und verstärkte ihre Attacken gegen die Kanzlerin. Er machte ihren Rauswurf zur Bedingung für eine Koalition mit der Union und den Grünen. Er ging davon aus, dass Seehofer, Söder und die CDU-Konservativen Merkel vor Ablauf der Legislaturperiode aus dem Kanzleramt jagen würden. Eine krasse Fehlkalkulation.

Auf den Steilhang gesetzt

Sie beruhte auf Überheblichkeit, unter der alle Merkel-Gegner leiden, von Merz über Schäuble und zu Guttenberg bis zu Seehofer und Söder. Sie alle wollten Merkel kleinkriegen und hatten doch mehr mit sich und der eigenen Eitelkeit zu kämpfen als mit der Kanzlerin. Jeder, der ihr krumm kam, entlarvte sich und schrumpfte auf sein natürliches Maß. Auch Lindner machte sich zum Teil dieser stattlichen Galerie.

Die Folgen seiner beiden Kardinalfehler waren vorhersehbar. Dass er sie nicht kommen sah, deutet auf politische Kurzsichtigkeit hin, ein großes Handicap für einen Parteiführer. Sie kostete ihn sein Renommee und die FDP ihre Perspektiven. Lindner setzte die Partei auf den Steilhang. Nun rutscht sie. Nach den Umfragen könnte sie bei der Wahl 2021 unterhalb der Fünf-Prozent-Marke aufschlagen.

Lindner brachte es fertig, sich dem Niveau des früheren SPD-Chefs Schulz anzupassen und die FDP dem der SPD: Auch sie und ihr damaliger Chef Schulz wollten nach der Wahl 2017 nicht regieren. Auch sie erhielten die Quittung. Schulz verschwand in der Versenkung, die SPD verlor ein Viertel ihrer ohnehin schon stark geschrumpften Anhängerschaft.

Piepsige Blockflötentöne

Dass Lindner die FDP in Thüringen nicht daran hinderte, mit der rechtsextremistischen AFD dort zu paktieren, wird ihm bis heute als Führungsversagen angelastet. Seine Bemühungen, zur AfD Abstand zu halten und dennoch bei ihr Wähler abzugreifen, endeten damit, dass ihn der AFD-Faschist Höcke bloß stellte. Seither steht Lindner neben seinem Sockel.

Der Eklat in Thüringen zeigt: Sein Einfluss in der Partei ist nicht grenzenlos. Aus den Medien vernimmt er, dass er seine Autorität beschädigt hat. Das Flair des Neuen ist verflogen. Seine Neigung, sich verbal zu spreizen, wird längst als Masche empfunden. Weil er seine rhetorischen Trompetenstöße nicht mit politischem Gewicht verstärken kann, kommen sie bei vielen nur noch als piepsige Blockflötentöne an.

Ab und an gelingt es ihm, mit der einen oder anderen Forderung oder Kritik von sich reden zu machen. Ihre Wirkung ist flüchtig. Sie hinterlassen in der Erinnerung der Wähler kaum Spuren. Lindner schafft es nicht, die FDP zu profilieren.

Zweifel an der Führungskraft

Lindner hat nicht nur versäumt, die FDP zu erneuern. Es unterließ es auch, Personal zu entwickeln, Parteifreunde zu stärken und Talente zu fördern. Er hat die Partei auf sich zugeschnitten. Bis auf den ewigen Vize Kubicki, der im Pensionsalter ist und von Talkshow zu Talkshow hastet, ist kaum jemand da, der bundesweit wahrgenommen wird oder gar Wirkung entfaltet.

Dass er kein Händchen für Personaldinge hat, zeigte sich, als er Teuteberg zur Generalsekretärin machte. Sie galt als farblos. Zweifel an ihren Möglichkeiten begleiteten sie von Anfang an. Doch einmal installiert, hätte er sie stützen und zu Erfolgen führen müssen. Es ist nicht zu erkennen, dass er ihr beistand. Heute wird ihre Schwäche ihm angekreidet.

In den vergangenen Monaten hat sich in der FDP und in ihrem Umfeld beträchtlicher Unmut über ihn angesammelt. Nun weckt er auch noch Zweifel an seiner Führungskraft. Er versucht, die Verantwortung für den schlechten Zustand der Partei, für ihre Defizite und miserablen Umfragewerte von sich weg auf die Corona-Krise und Teuteberg zu wälzen.

Draußen vor der Tür

Solche Versuche entlasten nicht. Sie wirken sich für den, der sie unternimmt, negativ aus. Lindners Verhalten gegenüber Teuteberg vermittelt den Eindruck, dass auf seinen Rückhalt und seine Unterstützung nur begrenzt Verlass ist. Was ist ein Vorsitzender schon wert, von dem sich seine Parteifreunde in Acht nehmen müssen, wenn er unter Druck gerät?

Bisher hat sich Lindner als einer jener Politiker präsentiert, die lieber posieren als regieren. Führungskräfte, die ihr narzisstisches Naturell nicht zügeln können oder mögen, umgeben sich gerne mit schwachem Personal, weil sie glauben, dann heller zu strahlen. Dieses Gebaren ist für sie und ihren Organisationen abträglich.

Lindner zwang die FDP in die Opposition mit dem markigen Spruch: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Die Wähler könnten sich seine Logik zu eigen machen und bei der Bundestagswahl 2021 zu dem Ergebnis kommen: „Es ist besser, nicht zu opponieren, als schlecht zu opponieren.“ Dann stünde die FDP am Wahlabend da, wo sie sich schon nach der Wahl 2013 wiederfand – draußen vor der Tür des Reichstags.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.