Selten habe ich ein Wissenschaftler*innen-Interview gehört, in dem so freihändig mit Begrifflichkeiten, wie Gesellschaft (“Gesellschaft als Risiko”), “Wir” und “man” hantiert wurde, wie heute im DLF mit Armin Nassehi. Den in diesem Interview gewürdigten Ulrich Beck habe ich seinerzeit gegen doktrinäre Kritik verteidigt. Sein Werk “Risikogesellschaft” war für mich ein Prototyp gelungen angewandter Dialektik. Davon konnte linke Politik, wenn sie nicht von gestern sein wollte, nur profitieren.
Bei Nassehi und seinem DLF-Interviewer Peter Sawicki fällt aber die unterschiedlich bis gegensätzlich verteilte Informations- und Entscheidungsmacht innerhalb einer Gesellschaft vollständig aus der Wahrnehmung. Das hat leider mit Wissenschaft nur noch wenig bis nichts zu tun. Ich will mir nicht gefallen lassen, so intellektuell “niedrigschwellig” von “meinem” Stammsender behandelt zu werden.
Michael Müller
Ein guter Kontrast dazu ist das Interview der Jungen Welt mit Michael Müller. Müller ist für mich ein ähnlicher Fall wie es sein früherer Genosse Otmar Schreiner war, oder mein heutiger Freund und Nachbar Michael Kleff ist. Zu unserer gemeinsamen Juso- und Jungdemokraten-Zeit waren sie für mich nach rechts abweichende allzu parteigehorsame Reformisten. Seitdem sind einige Legionen damaliger Linker hinter ihnen nach rechts gerückt, während sie selbst da stehenblieben, wo sie waren: links, und nicht rechts der Mitte. Andere legten weite Wege zurück: Gerhard Schröder (“Antirevisionist”), Joseph Fischer (raufboldiger Strassenkämpfer), Olaf Scholz (“Stamokap”) – von den ganzen “linksradikalen” Maoist*inn*en, die heute noch Russland erobern wollen, ganz zu schweigen. Bei Müller finde ich mein aktuelles Denken wieder. Mit einer notwendigen Ergänzung: dass die kommenden Regierenden so ein offenes Ohr für Aufrüstung haben, hat im Kern seine Ursache in einer kapitalistischen Besonderheit: das Kapital liebt die Rüstung, weil sich hier Sonderprofite erzielen lassen, wie sonst nur in der organisierten Kriminalität. Die grossmachtambitionierten Politiker*innen in Deutschland glauben das haben zu müssen, weil sie sonst von den real existierenden Atommächten im globalen Konkurrenzkampf wie kleine, noch nicht zurechnungsfähige Geschwister behandelt werden. Und weil es ihnen an Selbstwertgefühl, z.B. durch eine relevante gesellschaftliche Machtbasis, mangelt, empfinden sie Minderwertigkeit, wenn sie nicht auch mit einem prachtvollen Waffenschrank prahlen können. Da bilden die meisten Newcomer*innen meiner Partei keine Ausnahme. Obwohl: die gibt es auch.
Ein besonders frohes neues Jahr für Sibylle Berg
Meine Verfassung in der Quasi-Quarantäne ist so, dass ich, wenn ich dürfte, Sibylle Berg zum neuen Jahr einmal ganz lieb küssen würde.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net