“Ich kann nichts machen“ – Die bittere Wahrheit: Präsident Bolsonaros Aussage vom 5. Januar 2021
von Luiz Ramalho

„Quebrado“ (kaputt) – das bringt es auf den Punkt. Aber nicht nur das Land ist kaputt, sondern auch seine unfähige und in mehrerlei Hinsicht gefährliche und menschenfeindliche Regierung. Vier Aspekte nimmt unser Autor genauer unter die Lupe: den Impfkrieg, die Außenpolitik, das Nothilfeprogramm und die Ergebnisse der Kommunalwahlen im November.
Erstickungstod und Impfkrieg: Die Pandemie ist endgültig außer Kontrolle geraten. Die Bilder sind schrecklich und apokalyptisch. In der Amazonas-Metropole Manaus grassiert eine zweite heftige Welle der Coronapandemie mit neuen Mutationen. Im März 2020 gingen die Bilder von den Massengräbern aus Manaus um die Welt. Die jetzige Situation ist allerdings noch schrecklicher: Wegen Fehlplanung der brasilianischen Zentralregierung und der Regierung des Bundesstaates Amazonas gingen plötzlich die Sauerstoffvorräte aus. Die Folge: Binnen weniger Stunden sind in den Intensivstationen des Bundesstaates bisher 50 Covid-Patient*innen erstickt, Frühgeborene wurden rasch in andere Bundesstaaten evakuiert. Erstickende Menschen, verzweifelte Angehörige an den verschlossenen Türen der Krankenhäuser. Die Live-Bilder im Fernsehen schockieren die brasilianische Öffentlichkeit. Anhand der Pandemiebekämpfung zeigt sich, dass rechtsextreme und rechtspopulistische Regierungen, die die Schwere der Pandemie ständig negieren (Bolsonaro: es sei nur eine „gripezinha“, eine kleine Grippe), ein zusätzliches Risiko darstellen und noch mehr Schaden anrichten.
“Impfkrieg”
Dazu gehört auch der „Impfkrieg“. Seit Monaten macht sich der brasilianische Präsident, häufig in Begleitung seines Gesundheitsministers Pazzuelo (ein General aus dem aktiven Dienst), über die Bemühungen um die Impfungen lustig: „Ich werde sie nicht nehmen, Schluss und Aus!“ Oder: „Vielleicht verwandle ich mich in ein Krokodil, wenn ich den Impfstoff nehme.“ Das alles in einem offen geführten „Krieg“ gegen den Gouverneur Doria von São Paulo, der darin kulminierte, dass Doria (sowie anderen Gouverneuren) verboten wurde, selber Impfstoffe zu besorgen. Doria setzte sich jedoch darüber hinweg und triumphierte: Am 19.1. wurde eine Krankenschwester in São Paulo als erster Mensch in Brasilien geimpft.
Zum Hintergrund: Im Mai 2020 lehnte es die brasilianische Regierung ab, Teil der Covax-Initiative zu werden, der internationalen Impfallianz. Nach den Regelwerken der Covax hätte Brasilien heute Zugang zu 200 Millionen Impfdosen. Auch auf das Angebot von Pfizer/Biontech vom August 2020 für 70 Millionen Impfdosen wurde nicht eingegangen. Ebenso stoppte Bolsonaro eine Initiative des Gesundheitsministeriums, 46 Millionen Impfdosen des chinesischen Unternehmens Coronavac zu beschaffen. Kurzum: Brasilien gelang bisher lediglich der Kauf von 6 Millionen Vakzinen (das reicht für 1,4 Prozent der Bevölkerung) und ist nun unter anderem von der Gnade der chinesischen Regierung abhängig, um an größere Lieferungen zu gelangen. Und diese Regierung wird seit Monaten vom brasilianischen Außenminister und von Bolsonaro selbst beschimpft.
200.000 Tote
Zu den Irrationalitäten gehört auch die Entdeckung des „Covidismus“. Den hat der brasilianische Außenminister Ernesto Araújo als eine neue Erfindung des Kommunismus entlarvt, um die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren. Das Ministerium des Generals, der den Gesundheitsminister spielt (ein Logistikspezialist der Armee!), hat es versäumt, genug Spritzen für Massenimpfungen zu bestellen. Und das in einem Land, das über international anerkannte Strukturen und Erfahrungen für landesweite Massenimpfungen verfügt!
Inzwischen sind über 200000 Brasilianer*innen an Covid-19 gestorben, die Infektionszahlen steigen. Des Weiteren typisch für Brasilien: Privatkliniken machen sich bereit, Impfdosen zu besorgen, so dass sich in diesem Chaos zumindest die Reichen gegen Bezahlung impfen lassen können.
Abwahl “nicht in Ordnung”
Erst 40 Tage nach den US-Wahlen gratulierte Präsident Bolsonaro dem neuen Präsidenten Joe Biden in einem lauen Schreiben. Nach der Invasion des Mobs am 6. Januar im Washingtoner Kapitol gab er von sich: Man wisse ja, dass er eng mit Donald Trump verbunden sei, und die Wahlprozedur in USA „war eben nicht in Ordnung“. Und er fügte düster hinzu: Auch bei den Präsidentschaftswahlen 2022 in Brasilien hätte er Zweifel, ob alles mit rechten Dingen vonstattengehen würde.
Die Abwahl Donald Trumps ist ein herber Rückschlag für Bolsonaro. Schließlich wich Brasilien erstmals nach Jahrzehnten von seiner traditionell unabhängigen Außenpolitik ab und unterwarf sich nicht nur vollständig den USA, sondern auch direkt Trump selbst. Bolsonaro folgte Trump in dessen Rhetorik und internationalen Initiativen, einschließlich der ständigen Attacken gegen China, dem wichtigsten Handelspartner Brasiliens. Joe Biden wiederum hat bereits während des Wahlkampfs die Regierung Bolsonaro wegen dessen Amazonaspolitik kritisiert.
Vorher hoch angesehen als zuverlässiger und solidarischer Partner bei multilateralen Initiativen sowie als Moderator und Vermittler bei Konflikten, wurde Brasilien in den letzten zwei Jahren zum internationalen Paria, der sich entweder multilateralen Initiativen (wie etwa der bereits erwähnten Covax) verweigerte oder, noch schlimmer, immer häufiger aus internationalen Programmen und Konferenzen ausgeladen wurde. Die internationalen Handlungsspielräume für das Brasilien Bolsonaros schwinden. Das Land war noch nie so isoliert wie aktuell.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie wurden durch ein gigantisches Nothilfeprogramm („Auxílio Emergencial“) abgefedert. Fast 60 Millionen Brasilianer*innen erhielten von März bis Dezember 2020 600 Reais (zirka 90 Euro) monatlich. Vom Umfang und der Teilnehmer*innenzahl her war dies somit weit größer als das klassische Einkommenstransferprogramm „Bolsa Família“ aus der Zeit des Präsidenten Lula. Dieses neue Transferprogramm wurde im Parlament gegen den Willen des ultraliberalen Wirtschaftsministers Paulo Guedes beschlossen. Sein Vorschlag sah einen geringeren Betrag und eine kürzere Laufzeit vor. Das letztendlich bewilligte Programm hat die Lebensverhältnisse der armen Bevölkerung in der Pandemie wirkungsvoll stabilisiert.
Deindustrialisierung, Agrobusiness, Rohstoffabbau
Ab dem 1. Januar wurde dieses Programm nun ersatzlos gestrichen, ohne dass sich grundsätzlich etwas an der Notsituation der Armen geändert hätte. Im Gegenteil: Die Pandemie wütet weiter, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Prekarisierung steigen.
Während die Deindustrialisierung des Landes fortschreitet (gerade hat Ford nach über 100 Jahren den Rückzug aus Brasilien angekündigt), wächst das Agrarbusiness auch in der Krise weiter und profitiert vom Wachstum in China. Brasilien hängt also immer mehr vom Agrarbusiness und Rohstoffabbau ab – sie bleiben die Krisengewinner. Und es bleibt die klassische internationale Arbeitsteilung der Abhängigkeit.

Das erwähnte Nothilfeprogramm hatte einen überraschenden politischen Nebeneffekt. Die Popularität der Regierung Bolsonaro stieg trotz katastrophalen Krisenmanagements ab August 2020 beständig und erreichte bis zu 40 Prozent. Offensichtlich rechneten die Begünstigten des Programms die finanziellen Zuwendungen und die damit verbundene Stabilisierung direkt der Exekutive, also dem Präsidenten, zu.
Zuspruch für Bolsonaro nur noch von 31%
Dies half Bolsonaro aber nicht bei den Kommunalwahlen im November. Fast alle der von ihm direkt im Wahlkampf unterstützten Kandidaten verloren. Doch auch die progressiven Kräfte konnten keine nennenswerten Wahlerfolge verzeichnen. Immerhin erreichte Guilherme Boulos von der linkssozialistischen PSOL mit etwa 92 Prozent der Stimmen einen Achtungserfolg bei den Bürgermeisterwahlen in São Paulo. Gewonnen haben landesweit die nicht bolsonaristischen Mitte-Rechtsparteien, die sich beispielsweise mit Gouverneur Doria aus São Paulo bereits in die Startlöcher für die Wahl 2022 begeben. Mit 31 Prozent im Januar 2021 ist die Zustimmung für Bolsonaro wieder geschrumpft, sogar bei den Evangelikalen (von 53 auf 40 Prozent), und dies noch vor dem Ausfall des Nothilfeprogramms. Damit ist seine Anhängerschaft wieder auf den harten Kern reduziert. Mit einer rapiden politischen Erosion ist in den nächsten Monaten durchaus zu rechnen. Der Ruf nach einem Impeachment-Verfahren wächst.
Ohne Perspektive in der Pandemiebekämpfung, international isoliert, ineffektiv gegenüber der wachsenden Verelendung der Bevölkerung, ohne wirtschaftspolitisches Konzept scheint das Land am Abgrund zu stehen. Bolsonaro aber bleibt ratlos: „Ich kann nichts machen.“
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 442 Feb. 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

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