Dass politischer Sportprotest zunehmend choreographiert erscheint, ist nicht zwingend schlecht. Die Glaubwürdigkeit einer von Verbänden und Werbeagenturen, einem inzestuösen System, ausgedachten Inszenierungen ist naturgemäss begrenzt. Es zeigt aber, dass selbst diese selbstreferentiellen Systeme grosser Kapitalzirkulation nicht völlig unabhängig von unserer Welt hier draussen agieren können. Sie müssen emanzipatorische Kämpfe, die an Durchsetzungskraft gewinnen, von #metoo über Black Lives Matter bis zur Klimabewegung rezipieren, und die Klügeren versuchen sie, so gut sie es können, zu inkorporieren. Nicht, weil sie es mögen, sondern weil sie es müssen. Die Motive sind ein bisschen egal, entscheidend ist, was unten rauskommt.
Die Not des deutschen Fussballbusiness ist gross und wird immer grösser. Der DFB hat in Fifa und Uefa immer und überall gerne ganz oben mitgespielt, und merkt zu spät, was er angerichtet hat. Jetzt dürfen seine Spieler Gutes zu Menschenrechten und Kritisches zu Katar sagen. Während die Uefa gerade komplett abdreht, als gäbe es keine Pandemie und keine schwere ökonomische Krise der kapitalistischen Kernländer.
Doch der radikalste Protest, zu dem die deutschen Fussballspieler imstande sind, ist mir gestern abend komplett entgangen. Und auch das ist ein Symptom der Krise, in der die stecken. Die vorgeblich langweilige WM-Qualifikation war an den Pay-TV-Sender RTL (70 €/Jahr Abogebühr) verschleudert worden. Dort gucken nur noch gut halb so viele zu, wie bei einem Tatort: 6 Milliönchen; 77 Millionen haben Wichtigeres zu tun, selbst in Corona-Quarantäne. Gestern habe ich Fussballbekloppter sogar vergessen, im Videotext die Ergebnisse nachzugucken. Ich hörte es erst unmittelbar vor dem Einschlafen in den 0-Uhr-Nachrichten des DLF: 1:2 gegen Nordmazedonien. Das ist, wenn sie auf dem Autoput nach Griechenland fahren, der letzte Zwergstaat vor der griechischen Grenze. Als ich in den 90ern für die Grüne-Oppositionsfraktion im NRW-Landtag arbeitete, wollten die SPD-Fraktionschefs Farthmann und Matthiesen dahin immer die Roma abschieben.
Nun könnten Sie mit Recht fragen: was juckt es die Welt, wenn Deutschland sich nicht für die WM qualifiziert? Das hat mit der Ökonomie zu tun. Der wichtigste Markt für Fussball-TV-Rechte ist nicht Nordamerika, und noch nicht Asien, sondern Europa. Und in Europa ist der dickste Brocken Deutschland. Die Rechteverträge sind schon abgeschlossen, und müssen bezahlt werden. Zahlen müssen Sky (Comcast-Konzern) und wir. Uns gehören nämlich ARD und ZDF.
Gucken wollen aber höchstens noch so Bekloppte wie ich. Sie wahrscheinlich nicht. Vielleicht gibts ja weiter “Brennpunkte” zu diesem oder dem nächsten Virus. Und die DFB-Nationalspieler haben nicht nur etwas für ihre eigene, sondern für unser aller Gesundheit getan, wenn sie frühzeitig ausscheiden. Die Hoffnung stirbt zuletzt … 😉

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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