Beueler-Extradienst

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Mit dem Fahrrad der Armut entkommen

von Gert Eisenbürger
Die Hintergründe der Erfolge der kolumbianischen und ecuadorianischen Radprofis

Am heutigen 26. Juni beginnt die diesjährige Tour de France, die bedeutendste Radrundfahrt der Welt. Auch wenn diesmal keine Südamerikaner zu dem Top-Favoriten zählen (als solche gelten die beiden Slowenen Tadej Pogacar und Primoz Roglic) waren und sind die Erfolge der Fahrer aus Kolumbien und Ecuador in den letzten Jahren beeindruckend: 2019 gewann mit Egan Bernal erstmals ein kolumbianischer Sportler die Tour de France. Bereits 2014 hatte Nairo Quintana Rojas aus Kolumbien den Giro d’Italia und 2016 die Vuelta a España gewonnen, die beiden nach der Tour de France renommiertesten Etappenrennen. Den Giro d’Italia 2019 gewann der Ecuadorianer Richard Carapaz, der in diesem Jahr bei der Tour de Suisse siegte und auch bei der Tour de France dabei sein wird. Dagegen hat sich Egan Bernal, der nach seinem Sieg 2019 im letzten Jahr enttäuschte und in der Schlusswoche ausstieg, entschieden in diesem Jahr nicht bei der Tour de France, sondern nur beim Giro d’Italia anzutreten, den er Ende Mai souverän gewann. Warum die kolumbianischen und ecuadorianischen Radfahrer so erfolgreich sind und warum Kolumbiens rechte Regierungen den Radsport fördern, ist Thema des nachfolgenden Artikels.

Eine äthiopische Freundin sagte mir einmal, in ihrem Heimatland gäbe es einen scherzhaften Dialog, der da lautet: „Sie ist der Armut entkommen!“ – “Wie denn?” – “Sie ist schneller gelaufen!“ Damit wird auf die internationalen Erfolge der oft aus bescheidenen Verhältnissen stammenden äthiopischen Langstreckenläufer*innen verwiesen, die bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen fast immer zu den Medaillengewinner*innen in den Wettbewerben über 5000 Meter, 10000 Meter und den Marathonläufen gehören und danach mit Start- und Preisgeldern sowie Werbeeinnahmen gut verdienen.
Mythen
Etwas Ähnliches könnte man über viele der ecuadorianischen und kolumbianischen Radprofis sagen. Anders als die international erfolgreichen chilenischen und argentinischen Tennisspieler*innen kommen viele der südamerikanischen Radrennfahrer*innen nicht aus der Elite, sondern aus ärmeren, häufig bäuerlichen Familien der Anden. Auch hier ähneln sich die immer wieder reproduzierten Geschichten denen aus dem äthiopischen Hochland. Heißt es bei den Afrikaner*innen, sie seien jeden Morgen im Laufschritt zur nächstgelegenen, viele Kilometer entfernten Schule gelaufen, wird Vergleichbares auch von südamerikanischen Radrennfahrern berichtet, die den Schulweg mit extremen Höhenunterschieden auf alten Fahrrädern bewältigen mussten.
Auch wenn die ein oder andere dieser Geschichten einen wahren Kern hat, gehören sie doch meist in den Bereich der Mythen. Richtig ist aber, dass der Sport jungen, motivierten Menschen aus dem äthiopischen wie auch dem andinen Hochland eine Perspektive bietet, den schwierigen Lebensbedingungen in ihren Herkunftsregionen zu entkommen. Das hier verwendete Gendern ist übrigens für die äthiopischen Langstreckenläufer*innen seit Jahrzehnten angemessen, beim Radsport in Kolumbien ist die zunehmende Präsenz von Frauen eher ein jüngeres Phänomen, aus Ecuador gibt es überhaupt erst sehr wenige Fahrer*innen.

Liest man etwa bei Wikipedia die Kurzbiographien der international bekannt gewordenen Radprofis aus Ecuador und Kolumbien, fällt neben der erwähnten andin-bäuerlichen Herkunft – eine Ausnahme bildet hier Superstar Egan Bernal, der aus einem armen Barrio der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá stammt, das nach einer von Aktivist*innen der damalige Guerillagruppe M19 organisierten Landbesetzung errichtet wurde – auf, dass stets bereits ihre Väter im Radsport aktiv waren oder sich zumindest dafür begeisterten. Begabungen bei ihren Kindern/Söhnen wurden entsprechend früh erkannt und gefördert. Das war möglich, weil es in Kolumbien – anders als etwa in Bolivien oder Peru – auch in der Provinz Radsportclubs, Velodrome, Bahn- und Straßenrennen sowie qualifizierte Trainer gab.
Kolumbiens Radsporttradition
Kolumbien hat eine im lateinamerikanischen Vergleich lange Radsporttradition. Bereits in den dreißiger Jahren gab es regelmäßige Radrennen. 1938 wurde in Cali die Asociación (später Federación) Colombiana de Ciclismo gegründet, 1951 fand zum ersten Mal die nationale Rundfahrt Vuelta a Colombia statt.
International bekannt wurden kolumbianische Radsportler in den achtziger Jahren, allen voran Luis Alberto Herrera, der mehrere der berüchtigten schweren Bergetappen der Tour de France und zweimal die Bergwertung der Tour gewann und dreimal unter den ersten zehn in der Gesamtwertung war. Damals verfolgte ich häufig in der ARD die Berichterstattung über die Tour de France und ärgerte mich darüber, dass die Reporter im noch völlig selbstverständlichen Alltagsrassismus Herrera immer nur „die kolumbianische Bergziege“ nannten, eine Bezeichnung, die ihnen bei einem starken europäischen Bergfahrer nicht über die Lippen gekommen wäre. Die hießen eher „Gipfelstürmer“.
Die Grundlagen der kolumbianischen Radsporterfolge wurden also bereits früh gelegt. Ecuador verfügte nicht über eine ähnliche Infrastruktur von Trainingsmöglichkeiten und regelmäßigen Wettkämpfen. Der erwähnte Giro-Sieger 2019 Richard Carapaz und die anderen international erfolgreichen ecuadorianischen Radprofis wie Jefferson Cepeda, Jhonatan Narváez, Jonathan Caicedo oder Byron Guamá kommen aus der an Kolumbien angrenzenden Provinz Carchi, wo es enge Verbindungen zwischen beiden Ländern gibt. Fast alle haben ihre ersten Rennen in Kolumbien gefahren, Richard Carapaz ging bereits als 15jähriger nach Bogotá und wurde dort als Radrennfahrer ausgebildet.
Ultrarechter Präsident suchte positive Schlagzeilen
Waren es anfangs vor allem regionale, später auch größere nationale kolumbianische Firmen und Wirtschaftsverbände wie Café de Colombia, die den Radsport in Kolumbien förderten, begann sich mit den zunehmenden Erfolgen auch der kolumbianische Staat für die Radrennfahrer zu interessieren, vor allem in der Regierungszeit des ultrarechten Präsidenten Alvaro Uribe (2002-2010). Nicht etwa weil Uribe besonderes Interesse am Radsport hatte, sondern weil er international wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen immer stärker in die Kritik geriet. Vor allem seine engen Verbindungen zu den rechtsextremen terroristischen Paramilitärs und der Skandal um die sogenannten Falsos Positivos: um zunehmende Erfolge bei der Guerillabekämpfung zu suggerieren, ermordeten Militärs in ländlichen Regionen, aber auch in den städtischen Armenvierteln wahllos junge, oft dunkelhäutige Männer, steckten die Leichen in Guerilla-Uniformen und präsentierten sie dann den Medien als in Gefechten mit der Armee gefallene Guerilleros. Die nach den Friedensverträgen zwischen der Regierung und der FARC eingerichtete „Sonderjustiz für den Frieden“ (JEP) geht inzwischen von 6402 ermordeten Jugendlichen und jungen Männern aus. Sie veranlassten Uribe und seine Regierung, nach positiven Schlagzeilen zu suchen. Die Erfolge der kolumbianischen Radfahrer, manche sogar mit indigenem Aussehen, boten sich da an. Im Rahmen der PR-Kampagne Colombia es Pasión die vor allem darauf zielte, internationale Investoren anzulocken, förderte der kolumbianische Staat auch den Radsport, unterstützte neue Leistungszentren, sportmedizinische Einrichtungen und Rennställe.
An Peinlichkeit kaum zu überbieten ist in diesem Zusammenhang das in dem auf Radsport spezialisierten Bielefelder Covadonga-Verlag 2020 erschienene Buch „Colombia es Pasión. Wie eine Generation kolumbianischer Radrennfahrer die Tour de France eroberte und eine ganze Nation beflügelte“ des britischen Sportjournalisten Matt Rendell. Neben biographischen Reportagen über die bekannten kolumbianischen Radrennfahrer ist das Werk vor allem ein Loblied auf die Regierung Uribe. Dass in einem Buch die Sportpolitik einer Regierung gepriesen wird, während bei Menschenrechtsverletzungen weggeschaut wird, ist schon schlimm genug, kommt aber leider immer wieder vor. Rendell geht jedoch noch weiter. Relativ unvermittelt zwischen den einzelnen Radfahrerhistörchen streut er immer wieder Passagen über die Erfolge der Regierung Uribe bei der Modernisierung des Landes und der Bekämpfung der FARC-Guerilla ein, welche für Rendell für (fast) alles Schlechte im Kolumbien verantwortlich war. Als Quellen für seine Darstellung der jüngeren Geschichte Kolumbien nennt er im Anhang einzig die Memoiren der Präsidenten Uribe und Santos. Das ist ungefähr so, als wenn sich der Autor eines Buches zur Fußball-WM in Katar bei der Darstellung der jüngeren Geschichte des Landes ausschließlich auf die Memoiren des Emirs von Katar berufen würde.
Radsportbegeisterung wächst
Natürlich beflügelten die internationalen Erfolge der ecuadorianischen und kolumbianischen Radprofis die Radsportbegeisterung in beiden Ländern. Dies, die vorhandene Infrastruktur und die staatliche Förderung führten dazu, dass sich immer mehr Jugendliche fürs Radfahren interessierten – und zwar Jugendliche beiderlei Geschlechts. Seit 2016 gibt es neben der oben erwähnten Kolumbienrundfahrt der Männer auch eine fünftägige Vuelta a Colombia Femenina.
Damit reagierte der kolumbianische Radsportverband auf die wachsenden internationalen Erfolge kolumbianischer Profi-Radrennfahrerinnen wie Diana Peñuela, Liliana Moreno oder Mariana Pajón, die zweimalige Olympiasiegerin (2012 und 2016) im BMX (Bicycle Motocross, ein eigentlich unsinniger Name, weil die Räder eben keinen Motor haben). Bereits bei den Olympischen Spielen 2004 hatte María Luisa Calle als erste kolumbianische Radsportlerin als Drittplatzierte eine Medaille gewonnen. Die Bronzemedaille war ihr nach einem positiven Dopingtest zunächst aberkannt, dann aber wieder zuerkannt worden. 2006 wurde sie Weltmeisterin im Scratch, einem Ausdauerfahren auf der Bahn.
Cubanerinnen
Dass es für weibliche Erfolge keine erfolgreichen männlichen Vorbilder braucht, zeigen die cubanischen Radrennfahrerinnen, die in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem im Bahnradfahen erfolgreich sind. Während die cubanischen Männer international im Radsport keine größere Rolle spielen, gewann Yoanka González Pérez bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 die Silbermedaille im Punktefahren, nachdem sie bereits 2004 Weltmeisterin im Scratch gworden war. Ihre Kollegin Yumari González errang 2007 und 2009 den Weltmeisterinnentitel in der gleichen Disziplin. Auch Lissandra Guerra, Marlies Mejías und Arlenis Sierra gehörten in den letzten Jahren zur Weltspitze im Bahnrennsport, wobei insbesondere Arlenis Sierra auch bei Straßenrennen erfolgreich ist.

Dieser Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus ila 447 Juli/August 2021 mit dem Schwerpunkt Fahrrad und Radfahren in Südamerika, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschrften wurden nachträglich eingefügt.

Über Informationsstelle Lateinamerika (ILA):

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.

Ein Kommentar

  1. Der Maschinist

    Radsport fasziniert mich, seit mir meine Eltern ein “Rennrad” der Marke “Didi Thurau” geschenkt haben. Da muss ich etwa 11 oder 12 gewesen sein. Seitdem gehörte ich auch zu denen, welche eine Etappe der Tour gerne einmal live vom Start bis zum Schlußspurt gesehen haben. In den Zeiten der Telekom Regentschaft (Riis, Ullrich) über die Tour und später dann der USPostal Mannschaft (Armstrong, Landis) habe ich das Interesse an der rollenden Apotheke jedoch gänzlich verloren. Ob Rudi Altig der letzte ungedopte deutsche Tour Teilnehmer war, würde ich nicht beschwören. Als Manager war er später jedenfalls Teil des Systems, wie Thurau, Zabel, Vogt et al.

    Dennoch, vielen Dank für diesen Beitrag, Gert Eisenbürger! Den Erfolg kolumbianischer (und lateinamerikanischer) Radfahrer*innen auch mal politisch und gesellschaftlich einzuordnen, darauf wird mensch in der Berichterstattung von Eurosport/ARDone wohl vergeblich hoffen. Dabei wäre es in Zeiten eines “Lieferkettengesetz” vielleicht auch mal an der Zeit dafür. Das Produkt “Tour” jedenfalls hätte es bitter nötig!

    TV Hinweis zum Thema Tour/Doping: The Program, von Stephen Frears, bei 3Sat noch bis zum 02.07.2021 – https://www.3sat.de/film/spielfilm/the-program—um-jeden-preis-100.html

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