Von Peter Wahl
Zu den Regionalwahlen in Frankreich

Frankreich geht es schlecht. In dieser Situation hat der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 2022 begonnen. Schon die Regionalwahlen vom vergangenen Wochenende unterstrichen, dass Krisen und Verunsicherung bei unseren Nachbarn noch tiefer sind als hierzulande.

65 Prozent der Franzosen glauben einer Umfrage des renommierten Instituts IFOP zufolge, dass „die Zivilisation, wie wir sie kennen“ in den nächsten Jahren zusammenbrechen wird. In Deutschland sind es nur 39 Prozent.[1] Macron selbst sprach von „einer Welt am Rand eines Abgrunds.“ Und im universitären Milieu hat sich gar schon eine eigene Forschungsrichtung unter dem Label „Collapsologie,“ die „Lehre vom Zusammenbruch“ etabliert. Und das alles noch vor der Pandemie, deren Management in Frankreich noch etwas chaotischer und in Sachen Freiheitseinschränkungen zeitweise deutlich rigoroser als bei uns ablief.

Corona ist dabei nur das letzte Glied einer Kette von Krisen, die seit der Finanz- und der Eurokrise das Land erschüttern. Hohe Dauer- und Jugendarbeitslosigkeit, der Abbau des im internationalen Vergleich noch einigermaßen funktionierenden Sozialstaates haben enorme Unzufriedenheit und spektakuläre Protestbewegungen, wie die der Gelbwesten, hervorgerufen. Dazu kamen die Terroranschläge islamistischer Fundamentalisten, darunter zuletzt mit grauenhafter Symbolhaftigkeit die Enthauptung eines Lehrers, der Mohammed-Karikaturen im Unterricht behandelt hatte.

Jetzt rächt sich eine seit Jahrzehnten missratene Integrationspolitik und das Thema innere Sicherheit wird zum Gravitationszentrum der Politik. Prompt verschärft die Regierung Polizeigesetze in einem Maße, das selbst die UN-Menschenrechtskommission auf den Plan gerufen hat.
Das politische System aus den Fugen
Die Probleme haben sich über viele Jahre angestaut. Unmut und Instabilität hatten sich schon abgezeichnet als sowohl der rechts-konservative Sarkozy als auch dessen sozialdemokratischer Nachfolger Hollande bereits nach einer Amtsperiode wieder abgewählt wurden.

Mit der Wahl von Macron 2017 verschärfte sich die Instabilität noch einmal, und das politische System mit seinem traditionellen Links-Rechts-Schema wurde auf das Heftigste durcheinandergewirbelt. Auf der einen Seite der kometenhafte Aufstieg Macrons mit bonapartistisch-populistischen Zügen. Auf der anderen die Schrumpfung der Sozialdemokratie (Parti socialiste) von einer Regierungspartei auf 8 Prozent, die Krise der Konservativen, die mit der Korruptionsaffäre ihres Präsidentschaftskandidaten Fillon und dem Ausscheiden bereits in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen zu Tage trat.

Von vergleichsweise zweifelhafter Stabilität erweist sich dagegen Marine Le Pens Rassemblement National (ehemals Front National), das seit Jahren auf 20 – 24 Prozent zurückgreifen kann. Allerdings gelingt es der extremen Rechten bisher nicht, über diesen Sockel hinaus nennenswert in andere Wählergruppen einzubrechen.

Auch die Hoffnungen, die sich an die fast 20 Prozent für das linke Projekt La France Insoumise (LFI) 2017 geknüpft hatten, sind inzwischen wieder enttäuscht worden. Bei Umfragen dümpelt LFI um die 10 Prozent. Die französischen Grünen, die – anders als ihre deutschen Kollegen – noch grosso modo der Linken zugerechnet werden können, haben zwar bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr bemerkenswerte Resultate in einigen Großstädten erzielt, aber auf nationaler Ebene sieht die Lage anders aus. Ein wesentlicher Grund ist die Auseinandersetzung darum, wer führende Kraft der Linken ist. Hier konkurrieren die Grünen mit PS und La France Insoumise. Solange die internen Hegemonialkämpfe unentschieden sind, wird die Linke im Kampf um die Präsidentschaft keine Rolle spielen.
Und jetzt noch Corona
Jetzt kommen zu alle dem noch die Nach- und Nebenwirkungen von Corona. Das französische BIP ist 2020 um 8,2 Prozent eingebrochen, das deutsche nur um 4,9 Prozent.[2] Die öffentlichen Schulden steigen von 98,1 Prozent des BIP 2019 auf 115,2 Prozent 2021. Die deutsche Verschuldung dagegen von lediglich 59,6 auf 70,3 Prozent. Noch schlechter sieht es in der Handelsbilanz aus. Während der berüchtigte „Exportweltmeister“ 2020 nur einen leichten Rückgang seines Saldos von 274,1 auf 269,9 Milliarden US-Dollar hinnehmen musste und 2021 sogar wieder auf 327,0 Milliarden US-Dollar kommen wird, stürzt das seit Jahren notorische Defizit Frankreichs von 18,1 Milliarden US-Dollar 2019 auf 60,7 Milliarden ab – eine Verdreifachung!

Gleichzeitig hat die soziale Ungleichheit einen Höchststand wie seit 20 Jahren nicht mehr erreicht, so der Jahresbericht 2020/2021 des Forschungsinstituts Observatoire des Inégalités. Die Arbeitslosenrate lag im April dieses Jahres bei 7,3 Prozent, gegenüber 4,4 Prozent in Deutschland. Und während die Bundesregierung für ihr Management der Pandemie im April 2020 bei 74 Prozent Zustimmung lag und selbst ein Jahr später mit 56 Prozent noch über mehrheitlichen Rückhalt in der Bevölkerung verfügte, lag sie in Frankreich von Anfang an nur bei 39 Prozent, um ein Jahr später noch mal auf 37 Prozent zu sinken.[3]
Kulturkämpfe
Wie in anderen westlichen Ländern führen die multiplen Dauerkrisen auch in Frankreich dazu, dass Kulturkämpfe die Fieberkurve öffentlicher Erregung nach oben treiben. Zwar sind die Träger solcher Auseinandersetzungen vor allem Intellektuelle, Journalisten und einige Sektoren der politischen Klasse – für die Lebenswelt der breiten Bevölkerung haben sie weniger Bedeutung – aber sie beeinflussen enorm das Meinungsklima.

Die Themen sind in Frankreich allerdings andere als bei uns. Gendersternchen & Co. zum Beispiel spielen kaum eine Rolle. Die Regierung hat für alle staatlichen Institutionen – vom Ministerium bis zur Grundschule – Eingriffe in die Grammatik in offiziellen Texten und Verlautbarungen untersagt. Dafür tobt die MeToo-Debatte um einiges heftiger. Abgesehen davon, dass in der französischen Kultur tief verwurzelt ist, was ihre Bewunderer als Galanterie bezeichnen, von einigen feministischen Strömungen jedoch als mehr oder minder subtiler Sexismus kritisiert wird, kamen einige spektakuläre Missbrauchsfälle von Prominenten ans Licht, die die Debatte befeuerten.

Eine große Rolle spielt auch der sogenannte islamo-gauchisme. Gauchisme bedeutet Linksradikalismus. In Kombination mit Islam ist es ein Kampfbegriff der Rechten und der Regierung, der sich vor allem gegen jene Teile der Linken richtet, die sich gegen die Diskriminierung der französischen Muslime wenden. Die Regierung erwog sogar, besonders engagierte Organisationen, wie die Studentengewerkschaft UNEF, zu verbieten. Allerdings verlaufen die Konfliktlinien dabei nicht nur zwischen Regierung und Linken, sondern auch innerhalb der Linken, denn sie sind mit anderen heißen Themen verquickt.

An erster Stelle mit dem französischen Laizismus, der zu den Grundwerten der Linken und weiter Teile der Liberalen und der Bürgerlichen gehört. Das wiederum kreuzt sich mit den Auseinandersetzungen um Antisemitismus, speziell bei Muslimen. Frankreich hat nach den USA mit ca. 900.000 Juden die größte Diaspora, die ihrerseits an der Auseinandersetzung beteiligt ist – und zwar auf beiden Seiten. Und schließlich kommt zu alledem die Debatte um Postkolonialismus und Identitätspolitik, die angesichts der kolonialen Vergangenheit Frankreich sehr viel ausgeprägter ist als bei uns.

Hohe Wellen schlug in diesem Zusammenhang auch das Projekt Macrons, eine Historikerkommission mit einem Report über die französischen Verbrechen im Algerienkrieg zu beauftragen und damit eines der heißesten Eisen französischer Geschichtspolitik anzupacken. Nachdem dann noch eine Untersuchung zum Völkermord in Ruanda Kritik an Mitterands Außenpolitik geäußerte hatte, war die Empörung vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums groß. Gipfelpunkt war eine Erklärung von 20 meist pensionierten Generälen und anderen hohen Militärs, die offen mit Putsch drohten. Wenn es so weiter ginge, würde „eine Intervention unserer aktiven Kameraden in einer gefährlichen Mission hervorgerufen […], um unsere zivilisatorischen Werte und die Sicherheit unserer Landsleute auf dem nationalen Territorium zu gewährleisten.“[4]

Kurzum, das politische Klima ist von einem explosiven Gemisch an Konflikten bestimmt, in dem eine weit verbreitete Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Gesellschaft zum Ausdruck kommt.
Regionalwahlen – Symptom der Krise
Die Regionalwahlen vom 20. und 27. Juni betätigen das Bild: eine historisch einmalig niedrige Wahlbeteiligung von 33,3 Prozent in der ersten Runde und 34,3 Prozent in der zweiten ist Symptom für den Zustand des politischen Systems. Selbst wenn man Corona berücksichtigt sowie die Tatsache, dass die Regionen sehr viel weniger Kompetenzen haben als deutsche Landesregierungen, bedeutet eine derartige Abkopplung der Parteien von der Bevölkerung ein gravierendes Demokratieproblem.

Angesichts der katastrophalen Wahlbeteiligung ist die Aussagekraft des Wahlergebnisses für die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien natürlich sehr beschränkt. Dem Meinungsforschungsinstitut Ifop zufolge blieben 73 Prozent der Le Pen Wähler zu Hause. Bei Macrons LRM waren es 60 Prozent, während es bei den Konservativen nur 44 Prozent waren.

Hier die wichtigsten Fakten:

Sechs der 13 Regionen[5] fielen an die Konservativen darunter die Pariser Agglomeration (Ile de France), sowie die Regionen mit den Metropolen Lyon und Marseille. Dennoch schrumpfte ihre Anzahl an Sitzen von 910 auf 785. Fünf Regionen gingen an die Sozialdemokraten, eine (Bourgogne Franche Comté) an ein Bündnis aus PS, Grünen und Kommunisten. Korsika verblieb bei der korsischen Nationalpartei. In allen Fällen wurden die amtierenden Kandidaten bzw. Nachfolger aus deren Partei gewählt.
Dagegen ist die Regierungspartei La République en Marche (LRM) bereits in der ersten Runde in fünf Regionen aus dem Rennen geflogen. Von den übrig gebliebenen Kandidaten spielte auch in der zweiten Runde keiner eine Rolle. Es hat sich herumgesprochen, dass LRM eine reine Veranstaltung zum Abnicken der Politik Macrons im Parlament ist.
Le Pens Rassemblement National war von den Meinungsforschern als großer Gewinner prognostiziert worden. Mindestens in einer Region, Provence-Alpes-Côte d’Azur, wurde sein Sieg erwartet. Spitzenkandidat war dort eine ehemalige Lokalgröße der Konservativen. Die Stichwahl gewannen jedoch die Konservativen mit 57,3 Prozent gegenüber 42,7 für Le Pens Kandidat. Auch in der Breite verlor das RN. Die Anzahl seiner Sitze sank von 358 auf 250.
Die Ergebnisse der parallel durchgeführten Wahlen für die DépARTEments sehen weitgehend genauso aus. Etwas Aufsehen erregte das DépARTEment Val de Marne, in dem seit 45 Jahren die Kommunistische Partei die Verwaltungsspitze stellte. Jetzt ging das letzte kommunistisch regierte DépARTEment an die Konservativen.[6]

Auch wenn Macron und Le Pen die Verlierer dieser Wahl sind, dürfte die Schlagzeile des FIGARO „Die alte Welt ist zurück!“ verfrüht sein. Präsidentschaftswahlen sind im politischen System Frankreichs eine Liga für sich. Allerdings ist es auch typisch für Zeiten politischer Instabilität, dass Akteure überraschend verschwinden, aber auch genauso überraschend ein Comeback haben können. Ein erneutes Duell Macron – Le Pen ist am 10. April (Erste Runde) und 24. April (Stichwahl) also keineswegs ausgemacht. Das Rennen ist dieses Mal weitaus offener. Sicher ist aber, dass die neue Unübersichtlichkeit Interesse und Spannung in den nächsten Monaten nach oben treiben wird.

Anmerkungen:
[1] IFOP (2019): Enquête internationale sur la « collapsologie », Novembre 2019, Sondage Ifop pour la Fondation Jean-Jaurès
[2] Alle Zahlen in diesem Abschnitt nach: IWF, World Economic Outlook, April 2021.
[3] Le Monde, 23.2.2021; S. 10
[4] Valeurs actuelles, 01.05.21, „Pour un retour de l’honneur de nos gouvernants” : 20 généraux appellent Macron à défendre le patriotisme
[5] Insgesamt gibt es 18 Regionen, davon allerdings fünf in den französischen Überseegebieten. Mit ihren sehr speziellen Problemen sagen sie wenig über die Lage im metropolitanen Frankreich aus.
[6] Dafür nahm eine kommunistische Kandidatin im Überseeterritorium La Réunion (Indischer Ozean) an der Spitze einer linken Bündnisliste die Region den Konservativen wieder ab. Auch in Guyana (Karibik, bekannt für das Raumfahrtzentrum Kourou) löste ein linkes Bündnis die Konservativen ab.

Peter Wahl hat Romanistik und Gesellschaftswissenschaften in Mainz, Aix-en-Provence und Frankfurt/M. studiert. Er ist Mitbegründer von Attac und arbeitet in dessen Wissenschaftlichen Beirat mit. Davor war er zeitweilig kulturpolitischer Sprecher der Grünen im Rat der Stadt Bonn. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus Makroskop, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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