Die Pandemie fordert ihre Opfer – auch ihre demokratischen. Kein  Zweifel – ich halte ideologisierte Impfgegner, Schwurbler, Verschwörungsmythenanhänger und selbsternannte “Querdenker” für eine Gefahr für die Gesellschaft, weil sie die Prinzipien von Solidarität, Demokratie, und Freiheit, die dort endet, wo sie die Freiheit anderer bedroht, in Frage stellen. Ich halte derzeit eine einrichtungsbezogene Impfpflicht für sinnvoll und zielführend. Aber was reaktionäre Rechtspolitiker derzeit im Zuge der Corona-Krise veranstalten, hat mit einer angemessenen, liberalen, verhältnismäßigen Rechtspolitik nichts mehr zu tun. Ihnen sei entgegengehalten, dass das Strafrecht nicht geeignet ist, um Menschen zu überzeugen, und immer allerletztes Mittel bleiben muss, um unerwünschtes Handeln zu sanktionieren.
Unverhältnismäßigkeit der Strafdiskussion
Abschreckendes Beispiel ist die derzeitige Diskussion in Österreich. Die autoritäre Schwarz-Grüne Regierung plant, die Bürger*innen zur Impfung vorzuladen und bei Nichtbefolgung dieser Zwangsmaßnahme mit bis zu € 3.600 Geldbuße zu belegen. Ein ähnliches Vorgehen in Deutschland würde bedeuten, dass die Krankenversicherungen und Beihilfeträger ihre Kunden auffordern, sich bis zu einem Stichtag impfen zu lassen und ihnen im Falle der Zuwiderhandlung ohne Rechtfertigungsgrund ein Bußgeld von € 2.500 anzudrohen – so sieht es die Masern-Impfpflicht seit 2019 vor. Im Prinzip kommt das der vorläufigen Festnahme der gesamten Bevölkerung gleich. Dass dies mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar wäre, müsste eigentlich jedem Jura-Erstsemester einleuchten.  Nicht so Eiferern der autoritären Justiz. Der Göttinger Strafrechtler Professor Duttke – Mitglied einer Juristenvereinigung von “Lebensschützern” – etwa vergleicht Impfverweigerer mit Trunkenheitsfahrern, die nach § 316 StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden könnten. Und  Prof. Kathi Gassner, Rechtslehrerin an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, erklärte kürzlich gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, hartnäckige Impfverweigerer könne man durchaus mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestrafen.

Permanentes Notstandsdenken

Eine derartige Höchststrafe wäre nicht einmal mehr zur Bewährung auszusetzen. Dass derartig aus liberaler Strafrechtslehre völlig überzogene und unverhältnismäßige Vorschläge ernsthaft in die Diskussion gebracht werden, legt die Vermutung nahe, dass der faktische Notstand, in den die Pandemie die öffentliche Diskussion versetzt hat, eine Art “permanentes Notstandsdenken” etabliert hat, wie es bereits aus der Terrorbekämpfung im “Deutschen Herbst” und nach den Anschlägen auf das World Trade Center “9/11” bekannt ist. Bestimmte autoritäre Kräfte sind der Meinung, dass mit überzogenem staatlichen Handeln eine in diesem Fall von fehlgeleiteten “Querdenkern” und böswilligen Rechtsextremisten, der AfD und Reichsbürgern in Frage gestellte Ordnung wieder hergestellt werden könne. Im gleichen Zug wird jedoch die Demokratie nachhaltig beschädigt und eingeschränkt. Derart autoritäre Impulse geben den falschen Freunden des Grundgesetzes von rechts indirekt sogar noch recht. Ein derartiges Versagen angemessenen und verhältnismäßigen Handelns des Staates ist jedoch auch nicht neu: So wurden auch etwa 1987 Kritiker der Volkszählung, die in begründeter Sorge um die Grundrechte zum Boykott aufriefen, mit drakonischen Strafen, Buß- und Zwangsgeldern bedroht, die jedoch fast alle im nachhinein von den Gerichten aufgehoben und auf ein verhältnismäßiges Maß reduziert wurden.

“Epidemische Lage” missbraucht

Viel zu häufig wurden und werden Grundrechte in der Pandemie wie die Versammlungsfreiheit in Frage gestellt oder behindert, ohne dass dies durch Infektionsschutz oder die Gefahren, die von einer Eskalation der Demonstration ausgehen könnten, gerechtfertigt worden wäre. So wurden wiederholt zu Beginn der Pandemie auch solche Demonstrationen nicht genehmigt oder verboten, die sich mit Masken, Abständen und Tests bemühten, die damals bekannten Risiken auszuschließen. Die symbolische “Blockade” des Atomlagers in Ahaus durch 20 Personen war eine rühmliche Ausnahme – Landesinnenminister Reul hatte die Kommunen angewiesen “keine Demonstrationen zu erlauben”. Wir haben darüber ebenso berichtet, wie viele völlig unverhältnismäßige Übergriffe gegen Grundrechte, möglich wurden, weil der Bundestag die “pandemische Lage von nationalem Ausmaß” als pauschale Rechtsgrundlage beschlossen hat. In deren Folge die Verwaltungen und Regierungen zu grundrechtlich zweifelhaften Handlungen ermächtigt wurden, die im Parlament wohl kaum Bestand gehabt hätten:

Überzogenes Verwaltungshandeln

So liess das Niedersächsiasche Gesundheitsministerium im Frühjahr 2020 gegen den erklärten Rat der Landesbeauftragten für den Datenschutz Daten aller Corona-Erkrankten und -verdächtigen in Quarantäne an die Polizei übermitteln. Bayern untersagte in der Pandemie sogar Einzelpersonen, sich beim Spaziergang auf einer Bank auszuruhen, während Sachsen versuchte, die mögliche Entfernung der Spaziergänger von ihrer Wohnung zu limitieren. Schleswig-Holstein verbot bekanntermaßen den Ferienhausbesitzern aus Hamburg, ihre Wohnungen aufzusuchen. Ortsbürgermeister etwa in Mecklenburg-Vorpommern haben sogar ihre Satzungen dafür geändert. Sie ignorierten, dass es völlig gleichgültig ist, wenn Mindestabstände und die allgemein gültigen Regeln der Vorsorge eingehalten werden, ob Menschen in Köln oder am Rursee, in Düsseldorf oder im Bergischen Land etwa die Ostertage verbringen. Vor dem Virus schützen Abstände, Kontaktreduktion, Befolgen der Hygienerichtlinien. Die Pandemie erlebte viele  Schikanen – so etwa, dass sich im Sommer 2021 vollständig geimpfte Bewohner*innen in einem baden-württembergischen Altenheim das gemeinsame Essen im Speisesaal erst per Verwaltungsgericht wieder erkämpfen mussten.

Polizei: Übergriffe und Versagen

Im April 2020 brach die Polizei in die Wohnung eines 32-jährigen ein, nur weil er versucht hatte, zu einer Demonstration aufzurufen, obwohl nicht klar war, dass dieser Aufruf überhaupt geeignet war, beschlagnahmte man drei Computer und nahm ihn in Haft.   Am 5.April 2020 wollten in Berlin einige linke Aktivisten mit einem spontanen Autokorso auf die Flüchtlingssituation in Moria und anderen Lagern in Griechenland aufmerksam machen. Zu diesem Zweck beklebten sie ihre Fahrzeuge mit Parolen “Grenzen auf! – Moria evakuieren” – u.a.. Nach einer Stunde wurden die Fahrzeuge an der Skalitzer Straße in Berlin gestoppt. Der Vorwurf: Verstoß gegen das Versammlungs- und Infektionsschutzgesetz. In den PKW saßen nicht mehr als zwei Personen, die allesamt Mundschutz trugen. Wer durch die Plakate oder Banner an den Autoscheiben gefährdet sei, wollten oder konnten die Polizisten vor Ort nicht sagen. Gleichzeitig gelang es Corona-Leugnern und Q-Anon-Anhängern, AfD und Rechtsextremisten immer wieder, sei es beim “Stürmchen auf den Bundestag” oder am 9.November 2020, praktisch mit Hilfe der Behörden und der Polizei die Demonstrationsfreiheit  zu mißbrauchen und gegen jegliche Auflagen zu verstoßen. Auch aktuell lässt etwa die sächsiscxhe Polizei Demonstrationen von tausenden Coronagegnern laufen und löst linke Gegendemonstrationen auf und nimmt Teilnehmer*innen fest.

“Tiefpunkt der Rechtsfindung” – Unglauben, Empörung und Zorn

Viele Verfassungsrechtler und liberale Kritiker dieser Übergriffe haben deshalb vom Bundesverfassungsgericht erwartet, dass dieses Leitlinien für zukünftige Anordnungen der “epidemischen Lage von nationaler Tragweite” beschließen werde und wurden bitter enttäuscht. Der Jurist und Bürgerrechtler Heribert Prantl findet für das Urteil des BeVerfG zu den Lockdowns nur Worte des Unglaubens, der Empörung und des Zorns. Denn das Bundesverfassungsgericht, so Prantl, habe praktisch das Handeln des Staates unter diesem Gesetz pauschal abgenickt und die Verhältnismäßigkeit in eine Art Zustand der Stasis versetzt. Ähnlich formulierte es Michael Bertrams, ehemaliger Präsident des Landesverfassungsgericht NRW im Kölner Stadtanzeiger, der die fehlende Definition solcher Leitlinien bemängelt und einen “Tiefpunkt der Rechtsfindung” konstatiert. Dabei hat das Gericht schon im Vorfeld schwere Fehler gemacht und auf eine mündliche Verhandlung verzichtet, aber der Bundesregierung im Rahmen eines von Angela Merkel gegebenen Dinners die Möglichkeit eingeräumt, ihre Position zu grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen ausführlich darzulegen.  – Ein in der Geschichte der Gewaltenteilung einmaliger Verstoß gegen das Neutralitätsgebot.

Grundrechtliche Leitlinien vermisst

Dieser Fauxpas geht vor allem zulasten des neuen Gerichtspräsidenten Stephan Harbarth, der als Duzfreund Merkels bis vor kurzem CDU-Bundestagsabgeordneter war und ein offensichtlich absonderliches Verständnis von Gewaltenteilung zutage treten lässt. Dass eine mündliche Verhandlung nicht stattfand, aber die Bundesregierung gegenüber zwei Richter*innen exklusiv Stellung nehmen konnte, ist in der jüngeren Geschichte des Verfassungsgerichts einmalig.  Was aber viel schwerer wiegt, ist das Unterlassen des Gerichts, der Politik auch in schwerer Gefahrenlage rote Linien aufzuzeigen, die sich aus der Abwägung der Grundrechte ergeben, die die Regierungen auch in der pandemischen Lage beachten müssen. Die Folgen für die Demokratie sind noch gar nicht absehbar. Das Urteil habe, so sind sich die beiden Experten einig, der eigenen Rolle des Verfassungsgerichts als Hüterin der Grundrechte schweren Schaden zugefügt.

Erweiterung am 24.12.2021 als Übernahme aus “Tendenz”, der Radikaldemokratischen Stiftung i.G.:

Allgemeine Impfpflicht wie durchsetzbar?

Verfassungsrechtliche Überlegungen, ob eine allgemeine Impfpflicht verhältnismäßig und durchsetzbar sein könnte, hätten im Zusammenhang mit den Urteilen hilfreich sein können. Denn auch die aktuellen Forderungen des Ethikrates., die eine allgemeine Impfpflicht befürworten, bedeuten noch nicht, dass es verhältnismäßige und gleichzeitig wirkungsvolle und geeignete Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung gibt. Völlig ungeeignet, geradezu illusorisch – insbesondere zur rechzeitigen und schnellen Bekämpfung der “Omikron-Variante” – scheint nach aller Erfahrung mit ähnlichen Dateien die Forderung des Ethikrates nach einem zentralen nationalen Impfregister zu sein. Zum einen müsste hierfür zusammen mit einem Gruppenantrag im Bundestag die entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen werden, die im Rahmen der strengen Vorschriften der DSGVO über sensible personenbezogene Daten den Zugang zu diesen Daten besonders sorgfältig regeln müsste. Aber selbst wenn dies gelänge, wird der gesetzeskonforme Aufbau einer solchen Datei nach allen praktischen Erfahrungen Monate dauern. Zeit, die wir alle wegen “Omikron” nicht haben. Um die Bürgerinnen und Bürger zum Impfen aufzufordern, braucht es ein solches Register nicht: Briefe aller Krankenkassen und der Beihilfestellen würden alle Versicherten flächendeckend erreichen – das kennen die älteren Bürger*innen schon von der FFP2-Maske. Zur Sanktionierung jedoch sind Fristen nötig und die sind beim Impfen relativ unbestimmbar, nicht zuletzt, weil der Zugang zu Impfungen nicht überall gleichwertig und kurzfristig verfügbar ist. Deshalb bleibt realpolitisch entgegen irrtümlichem Glauben an autoritäre Lösungen nur, noch mehr aufzuklären, Ängste zu nehmen, Anreize zu bieten und flächendeckend mehr niedrigschwellige und aufsuchende Impfangebote – z.B. in Zusammenarbeit mit Pflegediensten – zu schaffen und durch G 2 und G 2 plus Impfsäumige zu überzeugen und konsequent zu nerven.

 

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net