Beueler-Extradienst

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III. Weltkrieg – oder ein Ausweg?

Während einer meiner Mitautoren auf diesem Blog der Meinung ist, dass es jetzt darum gehen solle, die ukrainische Armee noch mehr aufzurüsten, während der seine diplomatische Rolle längst überziehende Botschafter Melnyk weiter versucht, die deutsche Politik zu offensiven Waffenlieferungen, von Panzern bis hin zu Flugzeugen zu nötigen – wieso sollten sich die Probleme seit der gescheiterten Überführung der MIG 29 aus polnischen Beständen geändert haben? – möchte ich Ihre geneigte Aufmerksamkeit darauf lenken, dass derzeit alle Akteure übereinander, niemand aber mit  Russland redet. Das ist fundamental falsch, das ist fahrlässig und gefährlich, es macht die Sicherheit in Europa nicht nur nicht besser, sondern es könnte uns schneller als geahnt dem III. Weltkrieg näher bringen.

NATO Versammlung sendet Signale des Abgrunds

Die heutige NATO-Vollversammlung hat mit der Eröffnung durch Generalsekretär Stoltenberg begonnen, dass Schweden und Finnland erwägen, der NATO beizutreten. Außerdem kündigte er an, dass Georgien nicht nur eingeladen, sondern von der NATO “gestärkt” werde – was immer dies heißen mag, es wird Russland provozieren. Auch die Teilnahme Japans an den Beratungen der NATO-Außenminister ist eine Demonstration – in diesem Fall gegenüber China. Ist diese Form der Demonstration von Konfrontationsbereitschaft klug, wenn gleichzeitig kein Dialog stattfindet? Denn das, was hier ausgesendet wird, sind Signale, die wahrlich nicht auf Deeskalation und Defensive ausgerichtet sind.

Hat sich jemand bei der NATO darüber Gedanken gemacht, wie die “Gegenseite” in Russland diese Symbolik wahrnimmt und (fehl-)deuten könnte? Wie diese Demonstration auf Drittstaaten wirken könnte, die nicht direkt mit dem Russland-Ukrainekrieg in Verbindung stehen, aber in der UNO-Vollversammlung abstimmen? Ich weise ganz bewusst darauf hin, weil anscheinend in den vergangenen Wochen die Fähigkeiten, sich in den Gegner oder das Gegenüber in einem Konflikt hineinzudenken, der über Atomwaffen verfügt, verloren zu gehen scheinen. Und dies nicht nur, weil eine sympathische und gutaussehende Politikwissenschaftlerin namens Florence Gaub ihre Gesprächspartner*innen in diversen Talkshows mit der gewagten These verblüfft, die wirkliche Gefahr wären nicht die Atomwaffen Russlands, sondern die Angst des Westens vor den Atomwaffen Russlands.

Empörung überschattet Einsicht und Intelligenz

Bei aller berechtigten Empörung über vermutlich von der russischen Armee getötete Zivilisten wird allgemein zu schnell vergessen, dass leider solche Gräueltaten  zu den Begleiterscheinungen jedes modernen Krieges seit 1945 gehörten. Ob Korea, Algerien oder Vietnam, ob Irak oder Kosovo, Tschetschenien oder Afghanistan, Syrien oder Sudan: Zivile Opfer, Vergewaltigung, Plünderung, Raub, Bedrohung und Folter sind Alltag jeden Krieges. Die seit dem 2. Golfkrieg gern gepflegte Legende, es gebe moderne Kriege der “chirurgischen Schläge”, die die Bevölkerung von brutaler Gewalt ausnehmen, ist eine von beiden Seiten gern gepflegte Lüge. Weil er diese Lüge durch Dokumente aufdecken half, sitzt Wikileaks-Gründer Julien Assange bis heute in Großbritannien in einer jegliche Bürgerrechte verletzenden Haft. Aufgrund einer gnadenlosen Justiz der USA, die seiner Person um jeden Preis habhaft werden will. Aus dem gleichen Grund werden in Russland Oppositionelle, die von “Krieg” sprechen, wo Krieg herrscht, vom Putin-Regime mit bis zu 15 Jahren Haft überzogen.

Europa muss seine Interessen wahren

Die Bürger*innen und Politiker*innen in Europa müssen aufpassen, dass sie in der aktuellen Zuspitzung der Lage einen klaren Kopf bewahren und nicht aus den Augen verlieren, dass eine Eskalation des Krieges in Europa stattfindet und Europa in Mitleidenschaft zieht und schädigt – militärisch, ökonomisch und moralisch. Eine Eskalation des Krieges in der Ukraine und seine mögliche Ausdehnung auf zwei Jahre, wie es heute von US-Außenminister Blinken ins Spiel gebracht wurde, kann sich Europa nicht leisten – die USA schon. Eine völlige Zerstörung der Ukraine kann sich Russland ökonomisch ebenso wenig leisten, wie die EU einen langfristigen Krieg an ihrer Ostflanke.  Und auch bei der Beurteilung der Ukraine und ihres heldenhaft auftretenden Präsidenten dürfen seine geschickt gesetzten Medienauftritte nicht darüber hinweg täuschen, dass die Ukraine nach wie vor weit davon entfernt ist, die Beitrittskriterien zur EU zu erfüllen. Das bekräftigt auch der heutige Bericht von Amnesty International darüber, dass die Regierung Selenskij schon vor Kriegsbeginn nichts gegen rechtsextreme Übergriffe auf Minderheiten wie die Roma unternommen hat. Das Angebot Ursula v.d. Leyens auf EU-Mitgliedschaft war ein schwerer Fehler, der falsche Hoffnungen geweckt hat, die die EU nicht erfüllen kann.

Günstiger Zeitpunkt, der vielleicht nicht wiederkommt

Um so mehr wäre jetzt allerdings ein Zeitpunkt, die offensichtliche Pause der Neuformierung russischer Überfallregimenter für eine diplomatische Offensive zu nutzen. Denn der “Blitzkrieg” Putins gegen die gesamte Ukraine ist gescheitert, aber er will nun erklärtermassen einen Landkorridor von den bereits 2013/14  besetzten Ostprovinzen der Ukraine bis zur Krim erobern. In diesen Territorien lebt eine große Zahl von Russinnen und Russen. Bei einer Fortsetzung des Krieges drohen auf beiden Seiten drastische Verluste an Menschenleben und zivilen Opfern, weitere Eskalationen. Präsident Selenskij hat seinerseits erklärt, mit einer Einigung über Territorien, deren Bevölkerung abzustimmen hätte, wie über eine Neutralität der Ukraine verhandlungsbereit zu sein. Für Russland droht der Krieg täglich ein Stück ökonomisch teurer zu werden, die Sanktionen sind für die Nummer 21. der Liste der Welt-Exportstaaten schon jetzt ein Desaster.

Bedingungen liegen auf der Hand

So gibt es im Augenblick kaum einen besseren Moment, um aufbauend auf diesen Voraussetzungen in Verhandlungen um einen Waffenstillstand und möglicherweise einen Friedensplan einzutreten. Was könnte der enthalten?

  • Verhandlung einer “Demarkationslinie” zwischen den Gebieten der Ostukraine mit mehrheitlich russischer Bevölkerung und der Ukraine. Vereinbarung einer entmilitarisierten Zone auf beiden Seiten dieser Grenze kontrolliert durch robuste UN-Truppen.
  • Neutralität der Ukraine und der neuen “autonomen Republiken” nach dem Vorbild Finnlands in Form einer Nicht-Mitgliedschaft in der NATO.  Nicht-Integration der Donbas und Krim-Regionen der Ostukraine in Russland.
  • Sonderstatus beider ehemaligen Teile der Ukraine als Teile einer ökonomischen Freihandelszone mit Zollfreiheit sowohl mit Russland als auch mit der EU, um den Wiederaufbau zu begünstigen und Aussöhnung zu fördern.
  • Garantien der UN, z.B. durchgesetzt durch China, Kanada, Neuseeland, Indien und die Türkei durch die Stationierung von deren Truppen innerhalb der entmilitarisierten Zone von bis zu 100 km;
  • Einberufung einer neuen KSZE-Konferenz über die Entwicklung einer dauerhaften, neuen  Friedensordnung in Europa.

Wer kann ernsthafte Verhandlungen herbeiführen?

Wer könnte eine solche Verhandlungs- und Waffenpause herbeiführen? Es liegt auf der Hand, dass Russland auf einen solchen Vorschlag nur eingehen wird, wenn sich die USA direkt dafür einsetzen. Obwohl Joe Biden durch die Äußerungen seines Aussenministers heute deutlich gemacht hat, dass ihm eigentlich an einer Fortsetzung des Konflikts durchaus gelegen sein kann (jeder Monat, den der Krieg andauert, wird die Bestellungen von F 35 Kampfbombern aus Europa in die Höhe treiben), sind die USA die einzige Institution auf Augenhöhe, die Putin schnell und nachhaltig zum Einlenken bringen kann. Und auch seine Chancen, die Wahlen im Herbst nicht zu verlieren, würden durch einen Friedensschluss eher gestärkt, als durch einen dauerhaften Krieg, den die Amerikaner schon lange leid sind.

Notfalls müssen ihn Scholz, Macron und Johnson dazu überreden. Denn im Gegensatz zur intern von divergierenden Interessen von 30 Mitgliedern neutralisierten NATO könnte der amerikanische Präsident einen ähnlichen Coup zur Friedenssicherung landen, wie die Kennedys in der Kuba-Krise 1962. Damals bot Kennedy Chruschtschow in Geheimverhandlungen den Abzug von Mittelstreckenraketen aus der Türkei gegen den Rückzug seiner von Mittelstreckenraketen von Kuba an – und die Sicherheitsgarantie für Castro – Ein richtig dreckiger Deal, von dem weder die russische, noch die amerikanische Öffentlichkeit jahrzehntelang erfuhren. Aber die atomare Vernichtung der Welt in einem atomaren III. Weltkrieg wurde so verhindert.

Genau so etwas brauchen wir jetzt!

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

6 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Ich stimme zu. Nur: Kennedy wurde ein jahr später erschossen. Chruschtschow zwei Jahre später abgesetzt. Wen wird das ermuntern?

  2. W. Nissing

    Martin, das würde für die zivilisatorische Überlegenheit der Russen sprechen, immerhin haben sie den Ukrainer Chruschtschow nicht!! erschossen………

    • Martin Böttger

      Scherze lieber noch mal üben. “Die Russen”?

  3. Hanspeter Knirsch

    Den dreckigen Deal habe ich schon in meinem Beitrag vom 12. März gefordert. Seither gibt es wenig neue Erkenntnisse, aber zig tausende Tote, Verletzte und traumatisierte Menschen. Biden könnte sich den Friedensnobelpreis verdienen, wenn er einen solchen von Roland skizzierten Deal zustände brächte, statt von einem Sieg über Russland zu schwadronieren, an dem sich schon Napoleon und Hitler die Zähne ausgebissen haben. Geradezu unerträglich ist die Kriegsrethorik deutscher Politiker*innen und Experten, die den Sieg über Russland als Kriegsziel proklamieren. Das Ziel deutscher Politik müsste doch ein möglichst schnelles Ende der Kämpfe sein und Waffen allein haben noch nie zum Frieden geführt. Oder wird in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg mit den Waffen und dem Geld des Westens, aber mit dem Blut junger ukrainischer Soldaten geführt?
    Jeder nutzlos verstrichener Tag ohne Diplomatie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

    • Martin Böttger

      Stattdessen lautet das Thema von “Hart aber fair”: “Grausamer Krieg, offener Ausgang: Was muss geschehen, damit die Ukraine siegen kann?” Sprachpolitik. Redaktionell verantwortlich “unser” WDR.

  4. W. Nissing

    und die Nachrichten aus Frankreich sind auch nicht erbaulich, bleibt heute Abend also vorerst nur AOC
    Ps: Haltung und Hoffnung in der Niederlage (bezogen auf das Wahlsystem)
    https://youtu.be/izCL2pR8UCE

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