… Russland wieder die Hand zu reichen« – Günter Verheugen über das Verhältnis der Europäischen Union zu Moskau und Washington, eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine und die Soft Power Brüssels

Sie haben in Ihrer Zeit als EU-Kommissar und Vizepräsident der Kommission die Osterweiterung der Gemeinschaft verantwortet. Die Spannungen in Osteuropa, insbesondere auch im Verhältnis zu Moskau, sind seither stetig gewachsen. Haben Sie etwas falsch gemacht?

Ich bleibe dabei: Die EU-Osterweiterung war notwendig und richtig. Sie erfolgte übrigens im Einvernehmen mit Russland. Sicher gab es einige Streitfragen, aber die wurden im Dialog mit Moskau gelöst. Die Osterweiterung der EU ist ja auch nicht ursächlich für die Konfrontation, in der wir uns heute befinden. Ganz im Gegenteil: Sie hat mögliche Spannungsursachen beseitigt.

Osteuropäische und baltische Staaten in die EU aufzunehmen und Russland als Placebo eine »Strategische Partnerschaft« anzubieten, die im Westen niemand ernst genommen hat – das musste doch aber schief gehen.

So war es doch gar nicht. Die Strategische Partnerschaft mit Russland folgte der Strategie von 2002, um uns herum, also der EU, einen »Ring von Freunden« zu schaffen, wie es der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi sagte. Russland wiederum wollte in diesem Ring einen herausgehobenen, seiner Bedeutung entsprechenden Status. Ich will damit sagen: Die Strategische Partnerschaft war das, was Russland wollte, und diese Partnerschaft hat eine Zeitlang auch sehr gut funktioniert, bis ganz andere Fragen, die mit dem Verhältnis zwischen der EU und Russland nichts zu tun hatten, in eine neue Ost-West-Konfrontation führten.

Welche Fragen waren das?

Der Grund war, dass die EU mehr und mehr der US-amerikanischen Linie folgte. Und Washington meinte, es komme darauf an, langfristig Russland so zu schwächen, dass es nicht wieder zum Rivalen werden kann. Putin hat in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 klar gemacht, dass er einen Kurs der Missachtung russischer Sicherheitsinteressen nicht akzeptieren wird. Die Nato-Osterweiterung war in den Augen der russischen Seite das Hauptübel, aber es irritierte auch, dass die östliche Partnerschaft der EU nach 2007 ohne Beteiligung Russlands in Gang gesetzt wurde.

War diese Partnerschaft, mit der die EU insbesondere ehemaligen Sowjetrepubliken Avancen machte, ohne diese jedoch zu dicht an sich herankommen zu lassen, nicht als Eindämmung Russlands erdacht worden?

Der »Ring von Freunden« war strikt bilateral ausgerichtet. Die östliche Partnerschaft gab diesen Ansatz auf. Moskau empfand dieses Vorgehen als Anspruch der EU auf eine Einflusssphäre im früheren sowjetischen Machtbereich, der sich gegen Russland richtete. Es ist aber wichtig zu wissen, dass Russland den Versuch unternahm, die östliche Partnerschaft als gemeinsames Projekt mit der EU zu verfolgen. Und noch im Jahr 2010 wollte Russland trilaterale Projekte – EU, Russland, Länder der östlichen Partnerschaft – realisieren. Es gab also ganz klar Chancen einer konstruktiven Einbindung Russlands in eine Partnerschaft, die aber leider nicht genutzt wurden.

Abgesehen davon gab es, zumindest auf dem Papier, mehrfach Ansätze, auch Russland an die EU zu binden. Warum hat das nicht funktioniert?

Russland an die EU binden? An ein solches Konzept kann ich mich nicht erinnern. Unser Ziel war eine wechselseitige Bindung. Eine EU-Mitgliedschaft Russlands hat keine Seite ernsthaft erwogen. Es ging immer um Kooperation und Partnerschaft, und zwar unter dem Stichwort »von Lissabon bis Wladiwostok«.

Ich meinte auch keine russische EU-Mitgliedschaft, aber schon eine enge Bindung, die eine solche Konfrontation wie heute hätte verhindern können. Lässt sich das Verhältnis zwischen EU und Russland überhaupt noch kitten?

Das fragen Sie als Deutscher einen Deutschen? Eines Tages wird wieder miteinander geredet werden müssen, und je eher, desto besser. Für uns Europäer kann nur gesamteuropäische Partnerschaft die Antwort auf die immer größer werdenden globalen Konflikte sein. Wir müssen bereit sein, Russland wieder die Hand zu reichen. Das wird nicht heute oder morgen geschehen und hängt stark davon ab, wie die politische Gestalt Europas nach dem Ukraine-Krieg sein wird. Es ist nicht hilfreich, Regimechange in Moskau zur Voraussetzung für einen neuen Dialog zu machen. Denn darauf würden wir möglicherweise sehr lange warten müssen.

Was soll stattdessen geschehen?

Auf jeden Fall ist es zwingend notwendig, die gesamte Vorgeschichte des Ukraine-Krieges zu verstehen und richtig einzuordnen. Die EU wird auch bereit sein müssen, eigene Fehler aufzuarbeiten. Wenn wir die Vorgeschichte betrachten, sollten wir zwei Fragen genau unter die Lupe nehmen: An wem ist das Minsker Abkommen gescheitert, und wer oder was hat die EU dazu getrieben, sich im Jahr 2013 an einer Regimechange-Operation in der Ukraine zu beteiligen?

Wenn man die aggressiven Töne Richtung Moskau aus Kommission, Rat oder Europaparlament hört, die es nicht erst seit Putins Überfall auf die Ukraine gab, habe ich Zweifel, dass dies geschieht.

Das ändert nichts daran, dass man es tun muss. Wenn wir diese ganze Vorgeschichte nicht wirklich ernsthaft aufarbeiten, werden wir praktisch dazu verurteilt sein, dieselben Fehler zu wiederholen. Und wenn ich höre und sehe, dass die Forderung nach Kontextualisierung dieses Konflikts als Appeasement dargestellt wird, da muss ich sagen: Es ist schon merkwürdig, dass über Ursachen und Entwicklungen, die zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg führten, ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Und keiner kommt auf die Idee, das zu kritisieren. Aber wenn gemahnt wird, die ganze Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts, des ersten großen Kriegs in diesem Jahrhundert in Europa, aufzuarbeiten, dann gilt das als Appeasement?

Und ganz prinzipiell wird eine Verständigung nur möglich sein, wenn auf beiden Seiten der seit Helsinki 1975 bestehende Grundsatz beachtet wird, dass jeder die legitimen Sicherheitsinteressen des anderen zu respektieren hat. Geschieht das nicht, kehrt der Kalte Krieg dauerhaft zurück – und ich weiß nicht, ob wir noch einmal soviel Glück haben werden wie bisher, dass der nukleare Schlagabtausch nicht stattfindet.

Was ist von Plänen zu halten, die Ukraine schnell in die EU aufzunehmen?

Nichts. Diese Diskussion ist ein Zeichen großer Hilflosigkeit. Man möchte gerne etwas tun und stellt deshalb etwas in Aussicht, was keine reale Grundlage hat. Ohne vorherige weitreichende Transformation, und die braucht Zeit, erfüllt die Ukraine keine einzige Beitrittsvoraussetzung. Ich will nur einmal daran erinnern, dass der Assoziierungsvertrag diese Transformation in Gang bringen sollte, aber bisher ist nicht sehr viel dabei herausgekommen.

Die Ukraine hat aus gutem Grunde bisher keinen Status als Aufnahmekandidat erhalten – unter anderem wegen der grassierenden Korruption und diskriminierenden Maßnahmen gegen die russische Bevölkerungsgruppe. Da gab es zwar den erhobenen Zeigefinger aus Brüssel, aber auch nicht mehr. Kann die EU aus politischen und tagesaktuellen Gründen, und seien sie noch so gravierend, ihre Kriterien aufgeben?

Man sollte zwei Dinge auseinanderhalten: Bisher stand ein Kandidatenstatus gar nicht zur Debatte. Jetzt soll die Kommission prüfen. Aber klar ist doch, dass in dieser Prüfung die EU-Beitrittskriterien nicht aufgeben werden. Wohl aber wäre es richtig gewesen, der Ukraine frühzeitig und im Einvernehmen mit Russland eine Integrationsperspektive anzubieten. Ich fand es erbärmlich, dass die EU nicht einmal in dem Assoziierungsvertrag die Möglichkeit eines späteren EU-Beitrittes erwähnen wollte.

Eine politisch motivierte Aufnahme der Ukraine in die EU wäre ja auch eine – schlechte – Blaupause für ähnlich gelagerte Fälle.

Ich sagte Ihnen ja schon, das wird so nicht kommen.

Es gab oft Kritik daran, dass die EU-Aufnahmekriterien zu statisch, zu buchhalterisch, zu bürokratisch sein. Müssen neue Kriterien her?

Die Kriterien sind grundsätzlich richtig, aber eben auch hinreichend allgemein. Das Problem ist die Übersetzung in konkrete Schritte in allen Politikfeldern. Wenn die Kommission und die Mitgliedstaaten keine rigorose politische Lenkung und Kontrolle ausüben, dann verselbständigt sich der Apparat und es entstehen bürokratische Exzesse.

Es gibt aber noch ein anderes Problem: Seit 2005, dem Jahr, in dem die europäische Verfassung scheiterte, haben wir eine selbstgemachte Erweiterungsmüdigkeit. Die bisherigen Opfer sind die Türkei und die Westbalkanstaaten. Wenn Kommission und Mitgliedstaaten es wirklich gewollt hätten, wären diese Länder heute Mitglieder der Europäischen Union.

Mit all den damit verbundenen Risiken. Wenn man beispielsweise die Rechtsstaatlichkeitskriterien anwendet, hätten Ungarn, Polen, Tschechien oder Slowenien heute schlechte Chancen auf Mitgliedschaft …

Machen wir die Liste doch nicht länger als nötig. Natürlich kann man mit der Rechtspolitik, aber nicht nur der, in Ungarn und Polen nicht zufrieden sein. 2004 aber, dem Jahr ihres EU-Beitritts, galten insbesondere Polen und Ungarn als Ikonen des Widerstands gegen das kommunistische System. Damals war der historische Beitrag der Polen und der Ungarn zur Überwindung des Eisernen Vorhangs noch in lebhafter Erinnerung. Ich glaube nicht, dass wir heute mit Druck von außen auf diese beiden Länder viel erreichen werden. Die Polen und die Ungarn müssen ihre Probleme selber lösen, und das werden sie auch. Haben wir ein bisschen mehr Vertrauen in die demokratische Festigkeit beider Länder!

Es wird viel darüber geredet, dass der russische Überfall auf die Ukraine die EU zusammengeschweißt habe. Zumindest wird emsig daran gearbeitet, diesen Eindruck zu verbreiten.

Unzweifelhaft steht die Europäische Union klar zusammen, was die Verurteilung des völkerrechtswidrigen Kriegs in der Ukraine betrifft. Und das ist notwendig und auch gut so. Das kann aber tief greifende Meinungsverschiedenheiten nicht übertünchen, man denke nur an die Frage, ob Energieimporte aus Russland ausgesetzt werden und wie sie gegebenenfalls substituiert werden sollen.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen – auch die deutsche Ampelregierung – haben viel von strategischer Autonomie der EU gegenüber den USA gesprochen. Ist das mit der faktischen Unterordnung unter Nato und US-Politik obsolet geworden?

Ich habe das etwas anders wahrgenommen. Die Emanzipation von den USA oder etwa Äquidistanz zu den USA und China oder Russland haben die Erwähnten nicht gefordert. Sie sprachen von einer eigenständigen globalen Rolle etc., stellten aber die Grundsatzfrage nicht: Kann die EU ihre Sicherheit in die eigene Verantwortung legen. Nun, es sieht nicht danach aus. Die USA sind gerade dabei, ihre Führungsrolle in Europa zu zementieren.

Die EU ist bekannt als Gemeinschaft mit Soft Power. Nun ist auch in Brüssel – und nicht erst seit dem Ukraine-Krieg – viel von Eingreiftruppen, militärischen Fähigkeiten und Aufrüstung die Rede. Verspielt die EU ihre Fähigkeiten, in Konflikten diplomatisch zu vermitteln?

Eigene militärische Kapazitäten der Europäischen Union gibt es schon länger. Sie sind aber bisher nicht zum Einsatz gekommen. Ich sehe auch nicht, wann und wie das je geschehen sollte. Deshalb glaube ich nicht, dass militärische Fähigkeiten der EU ihre diplomatischen Wirkungsmöglichkeiten infrage stellen. Die hängen von vielen anderen Faktoren ab. Entscheidend bleibt für mich der Wille, die historische Begründung für das europäische Integrationsprojekt niemals aufzugeben, Frieden zu schaffen durch Überwindung von Nationalismus und Abgrenzung. Und zwar auf dem gesamten europäischen Kontinent.

Günter Verheugen war unter anderem Generalsekretär der FDP, nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 saß er für die SPD im Bundestag, war Chefredakteur des »Vorwärts« und Staatsminister im Auswärtigen Amt. 1999 wechselte er als EU-Kommissar nach Brüssel – zuständig zuerst für Erweiterung, ab 2004 dann für Industrie und Unternehmenspolitik. Bis 2010 amtierte er zudem als stellvertretender EU-Kommissionspräsident. Heute ist er als EU-Berater tätig. Dieses Interview erschien zuerst in der Zeitung nd, hier mit freundlicher Genehmigung aller Beteiligten.

Über Uwe Sattler (Interview, Gastautor):

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