… und kann nicht Gegengift im Ukrainekrieg sein. Warum es in einer Situation akuter Eskalationsgefahr fatal wäre, die nuklearen Provokationen aus Moskau mit entsprechenden Drohungen zu erwidern.
Russland blieb bisher ein schneller Erfolg in seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verwehrt. Die Annahme, dass eine mit der Nato verbündete Ukraine militärisch überlegen wäre und das nachvollziehbare Bedürfnis, die russischen Kriegsverbrechen zu sühnen, treiben Aufforderungen zum Eingreifen in den Konflikt an. Hierzu gehört auch die Aufwertung der nuklearen Abschreckung und Bereitschaft zur atomaren Aufrüstung. Nuklearwaffen seien ein Sicherheitsgarant und Teil der Abwehrstrategie gegen diesen Krieg, wird vielfach propagiert. Es dürfe sich nur in Sicherheit wägen, wer glaubhaft mit gegenseitiger Vernichtung droht. Das Gegenteil ist der Fall: Die Ausweitung der Abschreckung hat Putins Aggressionskrieg mit ermöglicht und es muss vermieden werden, Moskaus nukleare Drohungen und Provokationen gleichsam zu erwidern.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, die vor allem der Sicherheit in Europa dienten, einseitig oder wechselseitig von den USA und Russland gebrochen und aufgekündigt. Zugleich modernisierten beide Seiten ihre Arsenale und Trägersysteme, entwickelten Sprengköpfe mit geringerer Sprengkraft und höherer Zielgenauigkeit für einen flexiblen Einsatz. Die Optionen zur nuklearen Kriegsführung in den Doktrinen wurden – mit Ausnahme der Obama-Administration – sukzessive erweitert. Die nukleare Abschreckung der beiden größten Nuklearmächte zielt nicht nur darauf ab, einem nuklearen Angriff der gegnerischen Seite vorzubeugen. Auch andere diffus definierten Bedrohungen der nationalen Existenz können einen nuklearen Ersteinsatz begründen. Sogar konventionelle Angriffe sind als Rechtfertigungsgrundlage nicht ausgeschlossen.
Die Schwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen wird zusätzlich dadurch herabgesetzt, dass auch Szenarien mit sogenannten taktischen Kernwaffen mit geringerer Sprengkraft als Alternative zu konventionellen Sprengköpfen für eine „begrenzte“ nukleare Kriegsführung in Betracht gezogen werden. Diese Erweiterung der Einsatzszenarien wird von Putin auf makabre Weise auf die Spitze getrieben. Die Nuklearmacht Russland verschafft sich Raum für einen konventionellen Krieg, in dem sie die Nuklearmacht USA und deren Verbündete unter Androhung einer nuklearen Eskalation von einem direkten Eingriff abhält.
Putin schafft Präzedenzfall
Tatsächlich stellt die Drohung Putins in seiner Kriegserklärung am 24. Februar, dass jeder, der eingreife, mit Folgen rechnen müsse, „wie Sie es in Ihrer Geschichte noch nie gesehen haben“, einen Präzedenzfall dar. Sie geht über die nuklearen Drohgebärden im Zuge der Annexion der Krim 2014 hinaus. Zum einen äußerte sich diesmal der nukleare Befehlshaber und er bezog sich dabei auf konkrete und völkerrechtlich legitime Handlungsoptionen der potenziellen Gegenseite im Kontext des Angriffs auf die Ukraine. Zum anderen wurde die tatsächliche Bereitschaft zur nuklearen Eskalation untermauert durch die wenige Tage zuvor durchgeführten Tests atomwaffenfähiger ballistischer Raketen in Belarus und die Versetzung der russischen „Abschreckungskräfte“ in Alarmbereitschaft wenige Tage später.
Die Entschlossenheit Russlands zum Nuklearwaffeneinsatz auch von anderen Standorten in der Region aus sollte wiederum mit dem am 27. Februar in Belarus abgehaltenen Referendum deutlich gemacht werden. Es hob die Verankerung des atomwaffenfreien Status des Landes in der Verfassung auf und ebnet den Weg für eine potenzielle Stationierung russischer Nuklearwaffen.
Für einen nuklearen Stellvertreterkrieg fehlte Moskau nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das verbündete nukleare Schlachtfeld. Die USA behielten diese Option im Rahmen des freiwilligen Arrangements der nuklearen Teilhabe innerhalb der Nato, auch wenn die Biden-Regierung weit davon entfernt ist, einen Rückgriff darauf auch nur zu erwägen.
Im innenpolitischen Kreuzfeuer
Diese abschreckungspolitische Lücke Russlands ist ein unbeachteter Teil der strategischen Hintergründe für die militärische Expansion in Belarus und den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Eine Ausweitung der nuklearen Abschreckung seitens der USA und der Nato, etwa durch Aufstockung der für die nukleare Teilhabe bereitstehenden Arsenale oder gar Stationierung von Nuklearwaffen in Osteuropa, kann daher nicht Teil der Lösung des Krieges sein. Im Gegenteil: Putins nuklear abgesicherter Angriffskrieg ist Fortsetzung und zugleich Perversion einer Folge von Entgrenzungen nuklearer Drohungen und Einsatzszenarien.
Noch vor wenigen Monaten wurde aufseiten der Biden-Administration der Weg für eine Wende der US-Abschreckungspolitik bereitet. Die Nukleardoktrin der USA sollte stärker begrenzt werden. Ein US-Nuklearwaffeneinsatz wäre nur dann angezeigt, wenn ein Gegner nuklear angreift oder ein Nuklearangriff unmittelbar bevorsteht („sole purpose“). Es wäre eine einmalige Reduzierung der Einsatzoptionen in der US-Geschichte, die bedeutende Abrüstungspotenziale eröffnen könnte. Insbesondere Szenarien der begrenzten nuklearen Kriegsführung gegen konventionelle Angriffe wären ausgeschlossen. Die taktischen Nuklearwaffenarsenale verlören an Bedeutung. Da eine Verteidigung der Verbündeten im Falle eines Nuklearangriffs auch über U-Boot-gestützte ballistische Raketen möglich wäre, könnte auf die in Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen sogar gänzlich verzichtet werden.
Damit stand das Vorhaben des Präsidenten nicht nur im innenpolitischen Kreuzfeuer in den USA. Auch Nato-Verbündete, darunter Deutschland, stemmten sich dagegen. Sie fürchteten den Verlust der Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung, sollte die nukleare Teilhabe aufgegeben werden. Obwohl eine auf Szenarien gegnerischer Nuklearangriffe begrenzte Einsatzdoktrin das Risiko eines nuklearen Stellvertreterkrieges gerade in Europa senkt. Tragischerweise erschwert das aktuelle Klima der Debatte in den USA und den meisten europäischen Ländern eine derartige Umkehr der Nuklear- und Abschreckungspolitik. Dabei war sie sicherheitspolitisch noch nie so dringend notwendig.
Doch was folgt daraus, dass das Verständnis davon, was nukleare Abschreckung überhaupt bedeutet, immer weiter ausgedehnt wird? Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen, dass sich die „nukleare Grammatik“ aufgelöst hat und ihre Beugungsformen – vom Erstschlagverzicht bis zum atomwaffengesicherten Angriffskrieg – verschwimmen?
Ringen um ein strategisches Gleichgewicht
Wenn das gemeinsame Verständnis davon, wie weit Abschreckung gehen darf, abhandenkommt, geht auch Berechenbarkeit verloren. Die angenommene stabilisierende Wirkung des Ringens um strategisches Gleichgewicht verliert ihre Grundlage. Ihrer kalkulierenden Mäßigung beraubt, weitet die nukleare Abschreckung nur noch den Raum für Eskalation. Das haben US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erkannt und sich konsequent und bisher erfolgreich um Denuklearisierung des Ukrainekriegs bemüht.
Es ist richtig, Putin nicht auf dem Weg in die nukleare Eskalation zu folgen. Der Krieg gegen die Ukraine ist kein Beleg für das Funktionieren der nuklearen Abschreckung. Die nuklear abgeschirmten Zerstörungen und Kriegsverbrechen in der Ukraine offenbaren vielmehr die Perfidität der Entgrenzung nuklearer Drohungen. Das, was uns mit dorthin geführt hat, wird nicht dabei helfen, dem ein Ende zu setzen.
Wie die fünf im Atomwaffensperrvertrag anerkannten Nuklearmächte, darunter Russland, im Januar gemeinsam erklärt haben, kann ein Atomkrieg nicht gewonnen und darf deshalb nie geführt werden. In einer Situation akuter Eskalationsgefahr sollte man sich auf kein psychologisches Glücksspiel einlassen und auf die demonstrative Streicheleinheit für den roten Knopf verzichten. Stattdessen ist der Griff zum roten Telefon die bessere Vorbeugung und Mittel der Wahl. Darum sind die hochrangigen militärischen Kontakte zwischen den USA und Russland, aber auch die Telefonate zwischen europäischen Regierungschefs und dem Machthaber im Kreml aller moralisierenden Untersagungen von Berührung zum Trotz unverzichtbar.
Mit einer auf nukleare Wehrhaftigkeit im Falle eines nuklearen Angriffs begrenzten Politik würden die USA und Nato den expansiven und tendenziell imperialistischen Auslegungen der nuklearen Abschreckung durch Russland den Rücken kehren. Dabei sollten sie sich auch ausdrücklich die Ambivalenz vorbehalten, nicht nuklear auf einen Nuklearschlag zu reagieren. Schließlich verfügen die USA über entsprechende konventionelle militärische Fähigkeiten. Sie können sich durch deeskalative Unberechenbarkeit taktische und strategische Vorteile verschaffen.
Der Verzicht auf den nuklearen Potenzvergleich, die maskuline Machtdemonstration, erschließt diplomatisch und militärisch größere Handlungsspielräume im Umgang mit der russischen nuklearen Bedrohung, ohne die Option einer nuklearen Reaktion auf einen nuklearen Angriff zu verlieren. Er erlaubt auch eine konkrete und greifbare Umsetzung der von der Bundesaußenministerin proklamierten feministischen Außenpolitik. Indem er den eskalationsfördernden Dominanz- und Demonstrationspraktiken Putins deeskalierende Ambiguität und Flexibilität entgegensetzt.
Sicherheitsgewinn für Europa
Die Abkehr von der demonstrativen nuklearen Abschreckung hin zu einer Politik zurückhaltender nuklearer Wehrhaftigkeit würde nicht nur dabei helfen, Russlands nukleare Eskalation bloßzustellen und den Ukrainekrieg zu denuklearisieren. Sie brächte auch langfristig einen Sicherheitsgewinn für Europa, indem die Risiken eines nuklearen Stellvertreterkrieges und die Bedeutung taktischer Nuklearwaffen reduziert würden. Darüber hinaus könnte Verhandlungsmasse für die Beendigung des furchtbaren Krieges in der Ukraine und die Verhinderung einer erweiterten russischen nuklearen Abschreckung, etwa in Belarus oder durch Stationierung in Kaliningrad, gewonnen werden.
Um das Leid zu begrenzen und größeren Schaden zu verhindern, darf Russlands gegenwärtige militärische Schwäche nicht zu Eskalationslust verleiten, die den Einsatz von Massenvernichtungswaffen und einen dritten Weltkrieg riskiert. Stattdessen muss sie zur Beendigung des Krieges und Verhinderung einer Eskalations- und Aufrüstungsspirale genutzt werden.
Maren Vieluf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) im Projekt Challenges to Deep Cuts. Sascha Hach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) im Programmbereich Sicherheitspolitik und Rüstungskontrolle.
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