Das erste Opfer jedes Krieges ist die Wahrheit. Das aus dem Jahr 1914 stammende Zitat des US- amerikanischen Politikers Hiram Johnson ist seither vielfach bestätigt worden. „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.” Mit dieser Lüge eröffnete Hitler am 1. September 1939 mit seinem Angriffskrieg gegen Polen den 2. Weltkrieg, denn den behaupteten Überfall polnischer Truppen auf den Sender Gleiwitz in Schlesien hatte es nie gegeben, genauso wenig wie die Massenvernichtungswaffen des Saddam Hussein, deren angeblichen Besitz der US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 dem Irak vorwarf und damit den erneuten Krieg gegen den Irak begründete. Putins Lügen über das „faschistische“ System in Kiew fügen sich da nahtlos an.

Am traurigen Beispiel des Ukraine Krieges lässt sich feststellen, dass es der Vernunft nicht viel besser als der Wahrheit geht. Seit dem Dreißigjährigen Krieg wird die Rechtsfigur der Ultima Ratio immer wieder als Begründung für den Krieg verwandt. Kardinal Richelieu (1585 -1642) ließ auf die Geschützrohre des Königs Ludwig XIII die Formel gießen: „Ultima ratio regum“ und der preußische König Friedrich II verfügte 1742, alle Kanonen mit der Inschrift „Ultima ratio regis“ – das letzte Mittel des Königs – zu versehen, dabei ist jeder Krieg eine Bankrotterklärung der Vernunft. Es gibt keinen gerechten Krieg, sondern nur einen gerechten Frieden (vgl. mein Artikel an dieser Stelle vom 14. April 2022 „Richtig oder falsch“).

Das ist keine pazifistische Position, sondern heute mehr denn je eine Frage der Vernunft angesichts des weltweit angehäuften militärischen Vernichtungspotenzials und den Möglichkeiten des Zufalls.
Und es war auch nicht naive politische Blauäugigkeit gegenüber Putins Russland, die uns die Zwangslage der Abhängigkeiten von russischem Gas, russischem Öl und russischer Kohle gebracht hat, sondern pure wirtschaftliche Gier, die Europa in diese schwierige Lage versetzt hat, wie die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager zutreffend feststellt. Und Gier ist nicht nur eine der sieben Todsünden, sondern auch unvernünftig.

Putins Kalkül und Unvernunft

Putin hat diese Gier kalt lächelnd ausgenutzt und fügt jetzt mit seiner prall gefüllten Kriegskasse, in die europäischen Staaten nach wie vor jeden Tag Millionen einzahlen, nicht nur den Menschen in der Ukraine unermessliches Leid zu, sondern er schadet auch seinem eigenen Land und sich selbst. Russland wird sehr, sehr lange brauchen, um sich von den Folgen dieses Krieges, der irgendwann zu Ende gehen wird, zu erholen und ein Marschall-Plan des Westens für ein post-Putin-Russland ist im Moment schwer vorstellbar. Die Narben, die dieser Krieg hinterlassen wird, werden lange nicht aus dem Schmerzgedächtnis zu tilgen sein.
Man liebte ihn nicht und er hatte jenseits der bekannten Männerfreundschaften auf internationaler Ebene sicherlich kaum Freunde, aber der aufgestiegene KGB-Offizier Wladimir Wladimirowitsch Putin wurde zumindest respektiert, obwohl er bereits zu dem Zeitpunkt als er vor dem deutschen Bundestag eine Rede halten durfte (25.09.2001), alles andere als ein lupenreiner Demokrat war.

Noch nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 schrieb der Spiegel am 02.06.2015:

„Im oberbayerischen Schloss Elmau tagen am Wochenende die Anführer der mächtigsten Wirtschaftsnationen der Welt. Wladimir Putin darf nicht dabei sein – obwohl er der wichtigste Gast gewesen wäre.“

Jetzt wird sich niemand finden, der eine Einladung Putins zum nächsten G-7 Treffen vom 26. bis 28. Juni in Elmau befürwortet oder seine Nichteinladung bedauert. Mit Vernunft hat das wenig zu tun, wenn man sich selbst und sein Land international völlig isoliert. Aber das ist Putin offensichtlich mittlerweile ziemlich egal.

Moral ist kein Politikersatz

Es gestaltet sich zunehmend schwierig, in der Kakophonie der echten und vermeintlichen Experten Stimmen der Vernunft ausfindig zu machen. Das gilt in besonderem Maße für die deutsche politische Debatte um die Position Deutschlands in diesem Krieg.

Da tut selbst ein Beitrag wie der von Wolfgang Ischinger, ehemaliger Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz gut, wenn er in der Süddeutschen Zeitung vom 21. Mai 2022 u. a. fordert, den Gesprächskanal zu Moskau offen zu halten:

„Es kann nicht im westlichen Interesse sein, die Gesamtheit aller Beziehungen zu Russland vom Kriegsverlauf in der Ukraine abhängig zu machen.“

Es ist sicherlich auch nicht unvernünftig, wenn der Brigadegeneral Helmut W. Ganser eindringlich auf die Risiken eines ungesteuerten Eskalationsprozesses hinweist:

„Die entscheidende Prüffrage ist, inwieweit deutsche Waffentransfers heute und morgen in Verbindung mit den Leistungen anderer Staaten zum erfolgreichen Abwehrkampf Kiews beitragen, ohne dass sich Moskau in Reaktion darauf fatalen Eskalationsentscheidungen nähert. In seiner Rede vom 9. Mai hat Putin den existentiellen Kampf im Großen Vaterländischen Krieg gegen das Naziregime mit dem heutigen russischen Krieg in der Ukraine verschränkt. Ein Verteidigungsnarrativ, das die Bereitschaft des Kreml, nötigenfalls zum äußersten Mittel zu greifen, eher bestätigt. Politisch-moralische Argumente in der Debatte von einer höheren Warte blickend realpolitischen Kalkülen gegenüberzustellen, wäre unangemessen. Denn im Kern geht es um das verantwortungsbewusste, rationale Navigieren in einer politisch-moralischen Dilemmasituation, in der es keine eindeutig richtigen Wege aus der Gefahr gibt.“

Vernunft zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass sie die Unvernunft der anderen Seite in ihr eigenes Kalkül einbezieht, weshalb die Unvernunft Putins keine Rechtfertigung für eigene Irrationalität sein darf, will man sich nicht selbst entmündigen. Jürgen Habermas schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 29. April 2022:

„Annalena Baerbock hat der spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Regierung eine überzeugende Gestalt gegeben.“

Ist das die Aufgabe der obersten Diplomatin unseres Landes? Zweifel sind angebracht. Seit je her ist Vorsicht geboten, wenn in der Politik die Gefühle hochkochen. Moralische Empörung ist ein schlechter Ratgeber für Politik.

Henry Kissinger erinnerte daher zu Recht auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos daran, dass Diplomatie vor allem Realpolitik ist. Die andere Seite beim Wort nehmen und immer wieder kleine Schritte gehen, die dem Ziel eines möglichst baldigen Waffenstillstands dienen. Die Sicherheitsinteressen der anderen Seite sollte man dabei niemals als belanglos abtun. Das strategische Ziel sollte laut Kissinger immer auf ein Gleichgewicht ausgerichtet sein. Lieber ein atomares Gleichgewicht des Schreckens als gar kein Gleichgewicht, lautet sein Credo, weshalb er und in seinem Gefolge auch die seinerzeitige deutsche Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt ein Verfechter der sog. Nachrüstung waren, was Schmidt letztlich die Kanzlerschaft kostete.

In die gleiche Richtung argumentierte kürzlich ein anderer alter Herr der Politik, Klaus von Dohnanyi, als die Fernsehjournalistin Maischberger sich vergeblich bemühte ihn als Kronzeugen gegen Olaf Scholz zu missbrauchen. Ohne sich auch nur im Entferntesten mit Putin gemein zu machen, zeigte er die Versäumnisse der USA bei der Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur auf, die das Bedürfnis Russlands respektiert, keine amerikanischen Soldaten und Waffen an ihrer Grenze stationiert zu sehen.
Die Beachtung dieses Bedürfnisses hat bei den Verhandlungen über die Herstellung der Deutschen Einheit eine entscheidende Rolle gespielt. Dieses Bedürfnis wird gerade in der Debatte über einen NATO-Beitritt von Finnland und Schweden überwiegend ignoriert. Ein schneller bedingungsloser Beitritt stärkt Putin innenpolitisch. Seht her. Wir müssen uns verteidigen. Die NATO rückt uns immer näher auf die Pelle.

Vielleicht wäre es vernünftiger, einen NATO Beitritt nach dem Muster des 2 plus 4 Vertrages zum Bestandteil von Verhandlungen über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu machen.

Eskalation als Vorspiel zum Waffenstillstand?

Schaut man auf den Verlauf kriegerischer Konflikte in der Geschichte, so ist es häufig zu extremen Verschärfungen gekommen, bevor man sich an den Verhandlungstisch gesetzt hat. Es ist also kein Zynismus, wenn man in der Zunahme der Kampfhandlungen im Osten der Ukraine ein Zeichen der Hoffnung sieht.

Insofern tragen auch die schweren Waffen, die Deutschland jetzt schon liefert, zum Frieden bei. Damit das Ziel eines möglichst baldigen Waffenstillstands nicht aus den Augen verloren geht, bedarf es jedoch gleichzeitig einer Verständigung auf die Kriegsziele des Westens. Die USA und Selenskyj scheinen sich darauf verständigt zu haben, Putin und seine Truppen vollständig aus der Ukraine einschließlich der Krim zu vertreiben und Russland dauerhaft so zu schwächen, dass es nicht mehr in der Lage ist, einen Angriffskrieg zu führen. Damit rückt die Führung der Ukraine deutlich von früheren Kompromisspositionen ab, die selbst eine Neutralität der Ukraine nicht ausschlossen.

Das ist jedoch wahrscheinlich weder realistisch noch vernünftig. Die Atommacht Russland wird sich nicht demütigen lassen. Und ein Friedensvertrag, mit dem eine Seite gedemütigt wird, ist auch nicht vernünftig. Versailles hat keine 20 Jahre gehalten.

Die Konsequenz des Scheiterns des Minsker Abkommens darf nicht die Absage an einen Verhandlungsfrieden sein nach dem Motto, mit den Russen kann man keine Verträge schließen, die halten sich ja sowieso nicht daran. Vernünftig wäre es, keine Verträge unrealistischen Inhalts mehr zu schließen, deren Einhaltung man nicht kontrollieren kann. Lieber kleiner abgesicherte Schritte als den großen Wurf, der zum Scheitern verurteilt ist.

Der Krieg als medialer Quotenbringer

Vernunft in Zeiten des Krieges droht unterzugehen, je mehr verständliche Emotionen durch eine auf Schreckensbilder fokussierte Berichterstattung geweckt werden, wozu auch das öffentlich rechtliche Fernsehen Abend für Abend seinen Beitrag leistet. Es rettet keinem Menschen in der Ukraine das Leben, vor laufender Kamera zu bekennen, alle Russen zu hassen, wie es der Botschafter der Ukraine getan hat. Der Informationsgehalt von Bildern von in weißen Säcken verpackten Leichen ist gleich Null.

Polarisierung ist der Quotenbringer des Fernsehens. Die von privaten Produktionsgesellschaften hergestellten diversen Talkshows folgen genau diesem Muster. Und wenn die Frontfrau oder der Frontmann dann auch noch Eigentümer der Produktionsfirma ist, bleibt vom öffentlich rechtlichen Auftrag von ARD und ZDF nicht mehr viel übrig. Das hat zwar noch mit der Rationalität der Profitmaximierung, aber nichts mehr mit Vernunft einer politischen Debatte in einer Demokratie zu tun. Die Frage, die sich Politik stellen muss, ist, wer setzt eigentlich die Themen mit welchen Vorgaben? Wer entscheidet nach welchen Kriterien, wer zur Prime Time eingeladen wird?

Vernunft und Moral

Die Vernunft hat einen schweren Stand in Zeiten des Krieges. Aber sie ist alternativlos. Handeln wider besseres Wissen hat die Menschheit und den Planeten in eine vielleicht schon ausweglose Lage gebracht. Es ist offensichtlich unvernünftig, den endlosen Verbrauch endlicher Ressourcen zur Grundlage des eigenen Lebens und des globalen Wirtschaftsmodells zu machen und trotzdem ist es geschehen. Unterliegen wir im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine dem gleichen Irrtum, unser Handeln hätte keine Konsequenzen für uns, sieht es düster aus mit unserer Zukunft.

Krisenzeiten lassen systemische Schwächen stärker hervortreten und verstärken sie in ihrer Wirkung. Manchmal eröffnen sich auch neue Chancen. Es ist ohne Zweifel eine gravierende systemische Schwäche des Menschen, dass er über ein hoch entwickeltest Gehirn verfügt, das Verhaltenssteuerungssystem jedoch dem Fortschritt der Gehirnentwicklung nicht im gleichen Maße gefolgt ist. Emotional befindet sich der Mensch auf der Entwicklungsstufe des Jägers und Sammlers, der jederzeit damit rechnen musste, schnell und ohne zu zögern mit Gewalt sein ohnehin kurzes Leben zu verteidigen. Olaf Scholz hat sich davon zum Glück relativ weit entfernt.

Die Moral führt quasi durch die Hintertür die Emotionalität in die Welt der Vernunft ein – und umgekehrt. Das macht Moral potentiell so gefährlich, weil sie mit dem Gütesiegel aufklärerischer Werte die Vernunft aushebeln kann.

Max Frisch, der die persönliche Moral immer wieder zum Thema seiner Romane gemacht hat, unterschied zwischen der Moral und den Moralisten, die seiner Meinung nach das meiste Unheil anrichten. Natürlich brauchen die Menschen eine Moral, man könnte auch sagen Ethik. Aber erst die Vernunft eröffnet die Möglichkeit zwischen verschiedenen auch im Konflikt stehenden Positionen und Werten abzuwägen. Das muss auch und gerade in Zeiten des Krieges gelten. Dilemmata sind geradezu kennzeichnend für das menschliche Schicksal. Sie sind nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Das zu erkennen und zu akzeptieren, könnte eine Chance sein, die uns auch auf anderen Politikfeldern weiter hilft.

Der Autor: Dr. Hanspeter Knirsch, Rechtsanwalt, Autor und ehemaliger Bundesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten. Er gehörte in seiner Funktion als Vorsitzender der Jungdemokraten dem Bundesvorstand der F.D.P. an und war gewähltes Mitglied des Landesvorstands der F.D.P. in NRW bis zu seinem Austritt anlässlich des Koalitionswechsels 1982. Als Autor hat er sich vor mehr als zwanzig Jahren bereits mit dem Phänomen des Handelns wider besseres Wissen am Beispiel des Umgangs mit unseren Lebensgrundlagen beschäftigt. Sein im Jahr 2000 erschienenes Buch „Pandoras Erbe“, vom Handeln wider besseres Wissen und was man dagegen tun kann, ist im Buchhandel nur noch antiquarisch erhältlich. Der Autor stellt das Manuskript jedoch auf Anfrage als pdf-Datei kostenlos zur Verfügung.

Über Dr. Hanspeter Knirsch (Gastautor):

Der Autor ist Rechtsanwalt in Emsdetten und ehemaliger Bundesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten. Er gehörte in seiner Funktion als Vorsitzender der Jungdemokraten dem Bundesvorstand der F.D.P. an und war gewähltes Mitglied des Landesvorstands der F.D.P. in NRW bis zu seinem Austritt anlässlich des Koalitionswechsels 1982. Mehr zum Autor lesen sie hier.

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